Judentum und Christentum
Gemeinschaft wider Willen

Hans Hermann Henrix, langjähriger Direktor der Bischöflichen Akademie Aachen, die er zu einem Zentrum der Interreligiösität im Bistum Aachen entwickelte, hat eines der ehrlichsten Bücher geschrieben, die sowohl die Geschichte des Verhältnisses von Judentum und Christentum als auch die gegenwärtige Situation der Verbindung zwischen beiden Religionen darstellt. In seinem ersten Teil, dem 'Blick auf die Geschichte', zeichnet der Autor die Ausarbeitung und Entwicklung des Christentums als 'Entfremdung' vom Judentum nach, einem Prozeß, an dessen Anfang die Anhänger Jesu als innerjüdische Bewegung standen und sich über zahlreiche Stationen eines innerjüdischen theologischen Ringens schließlich als Judenchristen bzw. Heidenchristen und Juden gegenüberstanden. Und dies in einer Zeit der tiefen Zäsur für letztere, der Zerschlagung jüdischer Eigenstaatlichkeit und Zerstörung des religiösen Zentrums des damaligen Judentums, und einer Zeit der Konstitutionalisierung für erstere, die nicht zuletzt ihren Ausdruck in der Schriftwerdung des Neuen Testaments gefunden hat. Henrix beschreibt die beiderseitigen Versuche, sowohl des Christentums als auch des Judentums, sich mittels einer kämpferischen Polemik, die etwa vom Jahr 135 bis ins 4. Jahrhundert reichte, zu behaupten, als Versuch der Abgrenzung und Vertiefung der Entfremdung. Immer wieder war die Bibel Gegenstand der Auseinandersetzungen. Die Schriften des Neuen Testaments geben darüber Zeugnis: Konfliktsituationen sind zum Teil in die Zeit Jesu versetzt, Polemiken sind Ausdruck einer Enttäuschung der Anhänger Jesu oder Reaktionen auf die Situation der Bedrängnis und Verfolgung durch die jüdische Obrigkeit. Schließlich wirkte sich die Tendenz des Neuen Testaments, den Juden die Schuld am Tode Jesu zu geben unter gleichzeitiger 'Minderung der Verantwortung des römischen Statthalters Pontius Pilatus an der Verurteilung Jesu' (S. 26), in der folgenden historischen Entwicklung fatal aus. Vor allem aufgrund des 'Blutrufes' im Matthäusevangeliums (Mt. 27,25) wurden die Juden seit dem 2. Jahrhundert des Gottesmordes beschuldigt, ein Vorwurf, der lange Jahrhunderte bis in die Gegenwart hinein den christlichen Antijudaismus auf allen Ebenen begründete. Vom 4. Jahrhundert an bis in die Neuzeit verschärfte sich die Polemik zu Gewalt. Auch die zu Beginn des Mittelalters durchaus aus dem Wunsch der Kommunikation veranstalteten Disputationen zwischen jüdischen und christlichen Gelehrten dienten immer mehr der Judenmission oder der Rechtfertigung von antijüdischen Verlautbarungen, Bullen etc. Schließlich waren es neben dem 'Blutruf' die in Volksglauben und Frömmigkeit aufkommenden Legendenbildungen wie Brunnenvergiftung, Ritualmord, Hostienfrevel etc., die häufig zu konkreter Gewalt gegenüber Juden führten. Der Autor zeichnet den Weg vom Antijudaismus zum Antisemitismus als 'Transformation der religiösen Vorurteile in außertheologische Motive' (S.58) und erkennt dabei, daß der 'Erfolg' des neuzeitlichen Antisemitismus vor allem darauf beruhte, daß 'er die religiös motivierte Judenfeindschaft für seine Zwecke einzusetzen und zu nutzen wusste'(S.59). Den Schritt zur Schoah skizziert Henrix relativ kurz, rückt stattdessen seine 'Frage nach der Mitverantwortung und Schuld der Kirchen und Christen ' konkretisiert im Blick auf die Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938' ins Blickfeld. Sein Fazit ist ' wie kaum anders zu erwarten ' beschämend für das Christentum, vorgetragen in einer eben jener ehrlichen Sprache, die das Buch auszeichnet: 'Eine Frage nach dem Warum, nach den Gründen des Schweigens lastet besonders schwer. Es ist eben die Frage nach dem Stumm-Bleiben und dem Schweigen der Kirchen' (S. 65).
Für den Autor ist das Versäumnis der Kirchen eine historische Schuld, aber in seinem Buch möchte er mehr als dieses aufzeigen. Er beschreibt danach auch das Bemühen der Kirchen, insbesondere der katholischen Kirche diese Schuld zu bearbeiten und sich der 'Last der Geschichte' dabei bewußt zu bleiben. Für Henrix ist dies ein 'Prozess kirchlicher Überprüfung' (S. 69), der nicht allein die Schoah sieht, sondern die lange Geschichte des Verhältnisses der Kirche zum Judentum und jüdischen Volk' (S. 69) bedenkt. Folgend geht der Autor auf die verschiedenen veröffentlichten Schriften, vor allem des Vatikans ein, in welchen dieser Prozeß erkennbar wird, vor allem auf die Verkündigungsbulle zum Heiligen Jahr 2000 Incarnationis mysterium vom 29.November 1998, dem das Dokument 'Wir erinnern. Eine Reflexion über die Schoah' vom 16. März 1998 vorausgegangen war. Henrix erörtert beide Schriften, läßt ihre Verfasser und Befürworter sowie die Kritiker und Gegner gleichermaßen zu Wort kommen und er stellt auch die jüdischen Reaktionen darauf dar. Auch die Vergebungsbitte Papst Johannes Pauls II. am Ersten Fastensonntag 2000 im Petersdom und die kurze Zeit später erfolgte Israelreise des Papstes mit dem Besuch in Yad Vashem werden in solcher Weise ausführlich untersucht. Das Fazit hier ist dies, daß das Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk durch die 'kirchliche Anstrengung' insbesondere des Jahres 2000 eine Wende zum Besseren einleitete. Am Ende des ersten, mehr historischen Teils findet der Leser eine sehr hilfreiche Tabelle heutiger Strömungen im Judentum in deren Beziehung zur Tradition, durch die auch deutlich wird, daß ein Interesse am christlich-jüdischen Dialog im Konservatismus und im Reformjudentum anzutreffen ist, demgegenüber die jüdische Orthodoxie daran wenig bis nicht beteiligt ist. Dies mag bedacht werden, wenn im weiteren die theologischen Aspekte der Verbindung zwischen Judentum und Christentum untersucht werden. Henrix spricht dabei von einer 'Verbindung von Gemeinschaft und Ungemeinschaft'. Auch hier zeigt der Autor auf, welche 'Anstrengungen' die Kirchen und Gelehrten tätigten, um die Theologie und deren Thesen bezüglich 'Kirche und Israel' auf den Prüfstand zu stellen. Es geht im einzelnen um die Frage nach dem 'Alten Bund' und 'Neuen Bund', der Frage nach der Gültigkeit eines 'Extra ecclesiam nulla salus', der Verbindung zwischen jüdischer Messiashoffnung und dem Christusglauben der Christen sowie dem in der Tendenz trennenden Thema der Inkarnation Gottes. Wiederum versucht der Autor die jüdischen und christlichen Stimmen gleich laut zu hören und diese dem Leser zu verdeutlichen.
Diesem kann durch das Buch von Hans Hermann Henrix klar werden, daß es im christlich-jüdischen Gespräch vor allem darum geht, eine Annäherung nicht zu erzwingen, sondern sich behutsam anzunähern und den Glauben des anderen zu respektieren. Es geht nicht um Angleichung des einen an das andere, sondern um eine Erkenntnis der Differenz und um eine Betonung der Gemeinsamkeiten. Eben darum ist das Buch ein ehrliches.