Die Erde - Mutter oder Rabenmutter?

Der renommierte französische Geowissenschaftler Jean-Paul Poirier versucht in diesem Buch ein sehr schönes Experiment: er beschreibt und analysiert die Mensch-Erde-Beziehung und nimmt den Leser spannend mit auf den Weg zur Antwort auf die Frage, wer denn überhaupt schuld ist für die katastrophalen Rückschläge der Erde gegen die Menschheit; sprich für die Naturkatastrophen: 'die Natur schlägt zurück' und sie tut es immer öfter und vor allem intensiver. Warum wehrt sich die Erde? Weil der Mensch über die Grenzen der Belastbarkeit gegangen ist und immer noch geht ' aus der gutmütigen und gütigen Mutter Erde wird plötzlich eine böse Rabenmutter, die kein Verantwortungsgefühl mehr für ihre Menschenkinder hat. Begreift der Mensch es nicht, daß der Bogen langsam überspannt ist oder ignoriert er die Abwehrzeichen der Erde?
So ganz nebenbei und dies ist wirklich sehr eindruckvoll, lernt der Leser in einer sehr allgemeinverständlichen Form die Grundzüge der Tektonik, Seismik und der Klimageographie kennen und zwar nicht in tausendfach wiederholter Art und Weise, sondern gepaart mit den neuesten Erkenntnissen von der Forschungsfront. Wichtig dabei ist auch die Darstellung der derzeitig gültigen Vorhersageverfahren, denn eine rechtzeitige Vorbereitung auf eine nahende Naturkatastrophe kann viele Menschenleben retten.
Sehr spannend geschrieben ist das Kapitel 'Klima und Inneres der Erde', in dem das komplexe Wirkungsgefüge des Erdsystems ganzheitlich beleuchtet wird. Natürlich wird gefragt, wie man den anthropogenen Treibhauseffekt mit allen seinen ökologisch negativen Auswirkungen minimieren kann. Teure Klimakonferenzen ohne Ergebnis oder Handeln durch zum Beispiel: 'Stäube in die Stratosphäre schießen, um eine Abkühlung zu provozieren': sehr gewagt, oder? Es werden weitere Grenzbereiche angesprochen: Kern-Mantel mit den uns bekannten Hot Spots sowie die Unterschiede der Tagelängen auf den beiden Halbkugeln und die Erschöpfung der Wasserreserven. Es wird dabei auf elementare Zusammenhänge hingewiesen, die bislang eher untergeordnet in der Global-Change-Debatte diskutiert werden.
Und was ist jetzt mit der Antwort auf die Eingangsfrage: die Erde als Mutter oder Rabenmutter? Wir Menschen haben es letztendlich in der Hand, wie sich die Erde entwickelt: ernährt sie uns oder schwächen und zerstören wir sie vorher selbst so sehr, daß sie uns gar nicht mehr ernähren kann. Die Menschen akzeptieren dieses Risiko und riskieren dadurch ihre eigene Existenz. Wenn sie die Grenze der Belastbarkeit definiert haben, ist sie bereits überschreiten. Für mich persönlich ist die Erde Mutter, die Rabenmütter/-väter sind wir, denn wir Menschen agieren egoistisch und überwiegend auf die Gegenwart konzentriert.
Ein sehr lesenswertes und lehrreiches Buch, bei dem man zwischen den Zeilen doch ein schlechtes Gewissen bekommen sollte. Man wird gekonnt aufgerufen, sich gegenüber einer Mutter respektvoller zu verhalten und endlich das kollektive Jammern durch ein ökologisch und ökonomisch nachhaltiges Handeln zu ersetzen. Zum Glück ist dieses spannende Werk kompetent ins Deutsche übersetzt worden, ohne den Charme der französischen Ausdrucksweise von Jean-Paul Poirier zu verlieren.