Der dunkle Kontinent
Europa im 20. Jahrhundert

'Zukunft braucht Herkunft', so betont der Gießener Philosoph Odo Marquard. In der Tat, jetzt, wo ein vereintes Europa sich anschickt, eine neue Rolle in der Welt zu spielen, sollte jeder Europäer von Brest (France) bis Brest (Belarus), von Barcelona bis Berlin, von Aberdeen bis Athínai ' sei er nun Politiker, Wirtschaftler, Wissenschaftler oder Künstler ' über die Geschichte seines Kontinents bestens orientiert sein, um die Zukunft besser als im vergangenen Jahrhundert zu gestalten. Wahrlich, 'mit Brand und Seuchen schwängert sich das Werden,' (G. Benn): Über 50 Millionen Europäer verloren in den ersten 50 Jahren seit 1900 in Krieg und Unruhen ihr Leben, nur eine Million nach 1950.
In diesem schlüssig geschriebenen, gründlich recherchierten Werk hat hier der 1958 in London geborene und am Birkbeck College lehrende britische Historiker Mark Mazower, der bereits für sein 1993 erschienenes Buch über Hitler‘s Greece zwei Preise erhielt, die Geschichte des europäischen Kontinents ab 1900 analysiert. Und da dies als quasi Unbeteiligter aus der Sicht Albions geschieht, wird dieses Buch umso wertvoller und lesenswerter. Daß man hier Sätze findet wie 'Der Schlüssel zur Zukunft der Demokratie in Europa war ' wie über das gesamte Jahrhundert hinweg ' Deutschland.' schmeichelt und erhebt den Leser aus Deutschland. Daß nach den drei größten Katastrophen in der deutschen Geschichte ' Dreißigjähriger Krieg, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg ' in Europas Mitte jetzt eine prosperierende Demokratie besteht, muß wie ein Wunder erscheinen.
Aus elf Kapiteln, umfaßt von einem Vorwort und einem Anhang mit Karten, Tabellen, besteht das Buch in der deutschen (übersetzten) Ausgabe. Der Bogen spannt sich von der kurzen Blüte der deutschen Demokratie (1918-1933) bis zum Zusammenbruch des Kommunismus zu Ende des 20. Jahrhunderts. In den Überschriften taucht nur einmal ein Personenname auf, so im fünften Kapitel: 'Hitlers Neue Ordnung, 1938-1945.' Vertreibung und Ausrottung von Minoritäten sowie übertriebener Nationalismus waren die Tragödien in Europa, aber auch anderswo: Bei der 'Turkifizierung' des osmanischen Reiches mussten etwa eine Million Armenier ihr Leben lassen.
Am Rande erfährt der Leser viele interessante und bedenkenswerte Einzelheiten; daß z.B. bereits in Frankreich zwischen den beiden Weltkriegen die kinderreichen Familien mit einer Medaille geehrt wurden: Bronze für 5 Kinder, Gold für 10.
Die vielen, in den Text eingestreuten Schwarzweiß-Fotos (die in der 496seitigen englischen Paperback-Ausgabe fehlen) mit informativen Unterschriften unterstreichen die geschichtlichen Ereignisse unseres blutigen Jahrhunderts. Sie fangen an mit den Demonstrationen vor dem Parlamentsgebäude in Wien am 12. November 1918, dem Tage der Proklamation der 'Republik Deutsch-Österreich', und enden mit zerstörten Häusern und verminten Straßen in Bosnien.
Lesend-lernend fragt man sich immer wieder, wie es kommen konnte, daß totalitäre Ideologien durchaus als ernsthafte Alternative zur Demokratie in Betracht kamen, und daß auch Rassetheorien, völkische Einheitsphantasien, sowie die kollektive Verplanung individuellen Lebens nicht allein vom Faschismus/Nationalsozialismus ausgingen.
Der erste Satz des Buches (im Vorwort) tröstet: 'Europa mag auf den ersten Blick als ein Erdteil alter Staaten und Völker erscheinen, ist aber in mancher Hinsicht sehr jung.' Der letzte Satz (im Epilog) ermahnt und ermutigt die Europäer zu einer bescheideneren Rolle in der Welt, mit der sie wahrscheinlich besser zurecht kommen werden.
Fazit: Ein stimulierendes Buch über die bewegende Geschichte Europas der letzten 100 Jahre. Es beschreibt bündig die großen Zusammenhänge, aber vernachlässigt dabei nicht die Details, z.B. in Wirtschaft und Arbeitswelt. Es erahnt vielleicht ein Comeback Europas (mit seinen 376 Millionen, die in Frieden, Freiheit und sozialer Sicherheit leben) im heutigen Zeitalter von Handy, Internet und Biotechnologie.