Phantasiereiche
Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus

Eine altindische Weisheit besagt: 'Wer jedes Wesen in seinem eigenen Selbst wiederfindet und sich selbst in jedem anderen Wesen, der verachtet nichts.' Die europäischen Kolonialmächte gehörten mit ihrer organisierten Mißachtung fremder Völker nicht zu denjenigen, die sich diesen Grundsatz zu eigen machten. Auch Deutschland war an dem kolonialen Projekt beteiligt, obgleich es zwischen 1884 bis 1918 nur vergleichsweise kurzzeitig im Besitz eines Überseereiches war.
Die deutsche Geschichtswissenschaft hat der kolonialen Erfahrung bisher kaum Beachtung geschenkt. Umso mehr sind die neuerlichen, auf die 'postcolonial studies' zurückgehenden Bemühungen zu begrüßen, sich verstärkt mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Da dabei der Kolonialismus als gegenläufiger Prozeß zwischen Peripherie und Metropole verstanden wird, stehen gegenwärtig weniger die Auswirkungen der europäischen Übersee-Expansion auf die Kolonisierten, sondern auf die Kolonisatoren im Mittelpunkt des Interesses. In den Kontext der kolonialen ' sich vor allem kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Aspekten widmenden ' Metropolenforschung gehört der von Birthe Kundrus herausgegebene Sammelband 'Phantasiereiche'. In 15 Beiträgen wird der Frage nachgegangen, welche Prägungen das Kolonialzeitalter auf die deutsche Gesellschaft und ihr Selbstverständnis zeitigte.
Dirk van Laak erläutert in seinem Aufsatz, daß in den Jahren zwischen den Weltkriegen der afrikanische Kontinent gegenüber Osteuropa als imaginärer Expansionsraum der Deutschen die weitaus stärkste Popularität besaß. Entsprechende ' weit über den wilhelminischen Kolonialbesitz hinaus reichende ' Raumbemächtigungswünsche hatte es bereits vor 1914 bzw. dann vor allem im Zusammenhang mit den während des Ersten Weltkrieges aufgestellten kolonialen Kriegszielprogrammen zur 'Schaffung eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreiches' gegeben. Wie der Prestige- und Statusverlust als Kolonialmacht die kolonialrevisionistische Bewegung dazu brachte, nun mit allen Mitteln für die Wiedereinsetzung Deutschlands in seine 'kolonialen Rechte' zu agitieren, zeigt Christian Rogowski am Beispiel der Hamburger Kolonialwoche von 1926. Er konstatiert, daß unter den traumatischen Auswirkungen, welche die Niederlage im Ersten Weltkrieg für die Deutschen mit sich brachte, der Verlust der überseeischen 'Schutzgebiete' weitgehend unerforscht geblieben ist.
Mit den weiblichen Emanzipationsbestrebungen befaßt sich Lora Wildenthal in ihrem Essay über die kolonialen Frauenorganisationen des Kaiserreichs. Als Projektionsfläche boten die Kolonien der weißen deutschen Frau die wenn auch begrenzte Möglichkeit, überkommenen Geschlechterrollen zu entrinnen und ihre Handlungsspielräume zu erweitern. Die Interaktion der Deutschen mit dem kolonialen Fremden analysiert Pascal Grosse bezüglich der ins Reich eingewanderten Kolonialmigranten. Die 'koloniale Rassenpolitik an der Heimatfront' brachte die 'Kolonialneger' in eine höchst ambivalente Situation. Einerseits ausgegrenzt und unerwünschte Fremde, wurden sie dennoch für die koloniale Revisionspolitik instrumentalisiert. Den Blick auf die Kolonisierten in der Diaspora richtet auch Eve Rosenhaft. Sie schildert die politische Teilnahme Afrodeutscher an antikolonialen Kampagnen in den 1920er Jahren.
Mit diesen und anderen innovativen Themenstellungen belegt das Buch einmal mehr, daß die immer noch weitverbreitete Vorstellung überholt ist, die nachholende und nur drei Jahrzehnte währende deutsche Übersee-Expansion sei ohne tiefergehende Bedeutung für Deutschland gewesen. Der koloniale Diskurs in der deutschen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte reicht weit in das 18. Jahrhundert zurück und riß auch nach der frühen Dekolonisation nicht ab. Daß die Deutschen gelernt hatten, die soziale Welt nach Kategorien von 'Rasse' einzuteilen, ist nur eines der ' unheilvollsten ' Vermächtnisse des europäischen Kolonialzeitalters, wie David M. Ciarlo zu Recht anmerkt.