Der Zusammenhang von Literatur und Erinnerung ist im Laufe des vergangenen Jahrzehnts nicht nur in der deutschen Forschung, sondern auch international zu einem wichtigen Thema geworden. Für diese Bestandsaufnahme spricht auch der von Marianne Børch herausgegebene Sammelband, der die Beschäftigung mit den Schnittstellen zwischen Narration und Erinnerungskultur im Forschungskontext der dänischen Anglistik dokumentiert.
Was sind ‚narratives of remembrance‘? Obwohl der Begriff den meisten Lesern intuitiv einleuchten wird, hätte er in der Einleitung ein wenig stärker expliziert und theoretisiert werden können ' gerade, weil er gut gewählt und ist und eine Reihe interessanter Perspektiven eröffnet. In dem Sammelband geht es um ‚Narrationen‘ im weitesten Sinne ' schriftlicher und nicht-schriftlicher, fiktionaler und nicht-fiktionaler Art ', die auf kollektive Vergangenheiten Bezug nehmen. Diese weitgefaßten Narrations- und Erinnerungskonzepte erweisen sich als geeignetes Dach für einen stark interdisziplinär ausgerichteten Band, der Beiträge aus der Geschichtstheorie, der Kulturgeschichte, der Soziologie, der Literaturwissenschaft und schließlich auch aus der literarischen Praxis vereint.
Eröffnet wird der Sammelband durch eine Art Erfahrungsbericht der Schriftstellerin Helen Dunmore. Am Beispiel der Genese von Zennor in Darkness (1994), ihrem Roman über D.H. Lawrence im Ersten Weltkrieg, zeigt Dunmore die enge Verwobenheit von individueller Erinnerung, kollektivem Gedächtnis und literarischem Schaffen auf. Daß der Band somit auch mit einem Beitrag zum Thema ‚Erinnerung an den Ersten Weltkrieg‘ beginnt, ist folgerichtig, denn der britische Bezug auf den ‚Großen Krieg‘ ist ein paradigmatischer Fall für die Mythomotorik machtvoller Narrationen. Auch Nils Arne Sørensen befaßt sich mit dem Gedenken an die ‚Urkatastrophe‘ (G.F. Kennan) des 20. Jahrhunderts. In seinem Artikel 'Remembering the Great War' bietet er einen grundlegenden Überblick über die wichtigsten ‚loci‘ der britischen Erinnerungskultur ' Denkmäler, Remembrance Day, Fronttourismus und Kriegsliteratur (vermutlich müßte es auf S. 52 ‚Richard Aldington‘, und nicht ‚Richard Alderston‘, heißen) ' und erläutert auf sehr erhellende Weise die Frage, warum der Erste Weltkrieg auch heute noch eine solch dominante Stellung im englischen Kollektivgedächtnis einnimmt. Ebenfalls immer noch machtvoll, aber in ihren Implikationen grundsätzlich verschieden, ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Großbritannien. Eve Patten geht in ihrem brillanten Artikel 'Private Memories, Public Recollection' den Schnittstellen zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis nach und beleuchtet die Rolle, die Medien bei der (Über)Formung von Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg spielen. (Damit erscheint dieser Artikel äußerst relevant für die deutsche Gedächtnisforschung, die sich vermehrt sozialpsychologischen und medialen Aspekten zuwendet, vgl. etwa Harald Welzers ‚kommunikatives‘ und ‚soziales Gedächtnis‘.) David McCrones sehr lesenswerter Artikel zur schottischen ‚heritage industry‘ eröffnet schließlich interessante Einsichten in die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Implikationen der Fabrikation von kultureller Erinnerung.
Auf die historischen und soziologischen Analysen konkreter Erinnerungskulturen folgen stärker theoretisch ausgerichtete Artikel, die das Spektrum, das sich zwischen literarischer und historiographischer Vergangenheitsrepräsentation ' mit all seinen Grauzonen und Überlappungen ' erstreckt, erkunden. In ihren geschichtstheoretischen Beiträgen begreifen Lars Ole Sauerberg und Jens Rahbek Rasmussen die kontroversen Diskussionen um die Narrativität und Konstruktivität der Geschichtsschreibung (sensu Hayden White) als eine Form der Problematisierung von Möglichkeiten und Grenzen, ‚narratives of remembrance‘ auf wissenschaftlicher Ebene zu verfassen. Sauerberg hält fest, daß Kontext und Funktionen narrativer Texte letztlich darüber entscheiden, ob eine Erzählung als historiographisch oder als fiktional zu bewerten ist. Bei Rasmussens Beitrag handelt es sich um eine kritische Abhandlung zu Positionen des Poststrukturalismus. Abgerundet wird der Band schließlich durch einen genuin literaturwissenschaftlichen Beitrag: Marianne Børch bietet eine atemberaubende tour de force zur narrativen Inszenierung und Reflexion von Erinnerung in literarischen Werken ' von Chaucer über Defoe und Orwell bis hin zu Byatt und Winterson.
Bei Narratives of Remembrance handelt es sich aus zweierlei Gründen um einen ' auch und gerade im deutschen Forschungskontext ' äußerst lesenswerten Band. Erstens ist er an viele aktuelle Forschungsprojekte und deren Fragestellungen zum ‚kulturellen Gedächtnis‘ und zu ‚Erinnerungskulturen‘ anschließbar. Zweitens leistet er einen wichtigen Beitrag zu einer (noch der Weiterentwicklung harrenden) literaturwissenschaftlich und erzähltheoretisch ausgerichteten Gedächtnisforschung.