Im letzen Jahrzehnt haben sich kulturgeschichtlich orientierte Studien vermehrt den Erfahrungsbegriff zunutze gemacht, um über die Erkenntnismöglichkeiten einer reinen Militärgeschichte hinauszugelangen und den Krieg 'von unten', als Gegenstand gesellschaftlicher Wahrnehmungen und Deutungen in den Blick zu bekommen. Der anzuzeigende Sammelband, der aus dem Tübinger SFB 437 'Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit' hervorgegangen ist, knüpft an diese neueren Tendenzen der Geschichtswissenschaft an und leistet zugleich einen wichtigen Beitrag zu deren Weiterentwicklung. Zum einen wird eine theoretische Präsizierung des notorisch vielschichtigen Erfahrungsbegriffs, der Aspekte wie Wahrnehmung, Erinnerung, Deutung oder Tradition beinhaltet, vorgenommen. Zum anderen wird das Ziel verfolgt, neuere kulturwissenschaftliche Ansätze mit der etablierten Struktur- und Sozialgeschichte zu vermitteln.
In ihrer Einleitung stellen die Herausgeber die grundlegenden theoretischen Bausteine einer Erfahrungsgeschichte vor. An zentraler Stelle stehen dabei die Wissenssoziologie Berger und Luckmanns sowie Kosellecks 'historische Semantik'. Die sich anschliessenden Beiträge verbinden diese Konzepte auf produktive Weise mit neueren kulturgeschichtlichen Ansätzen - mit Alltags-, Mentalitäts- und Erinnerungsgeschichte, Systemtheorie, historischer Diskursanalyse, Symbolgeschichte, Körpergeschichte sowie mit Konzepten von Erfahrungsorten oder Zeitbewußtsein. Der jeweilige Erkenntnisgewinn verschiedener Zugangsweisen zur Kriegserfahrung wird anhand konkreter Beispiele verdeutlicht: Der Band vereinigt Untersuchungen zu den Napoleonischen Kriegen, den Einigungskriegen, zum Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie zu den jeweiligen Nach- und Zwischenkriegszeiten, in denen erinnert und gedeutet wurde.
Obgleich der Sammelband so das breite Theorie- und Anwendungsspektrum der Erfahrungsgeschichte vorführt, basieren alle Studien doch auf der grundlegenden Prämisse des 'Tübinger Erfahrungsbegriff[s]' (S. 261), daß Erfahrung ein Produkt komplexer gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse ist. Dieses konstruktivistische Verständnis von Erfahrung bedeutet eine Verschiebung des geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses: Es geht nicht mehr um Grenzziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft oder zwischen 'authentischer Erfahrung' und späterer 'absichtsvoller Umdeutung'. Gefragt wird statt dessen nach sozio-kulturellen Deutungskontexten, die Erfahrung präformieren, umgekehrt aber auch durch sie modifiziert werden können, nach der zeitlichen Struktur von Erfahrung, d.h. nach Prozessen der Verfestigung oder Rekombination kultureller Semantiken, nach Spezifika medialer Vermittlungen (in dem Band wird für eine Erweiterung des Quellenkorpus und für eine Aufwertung der Rolle massenmedial vermittelter Erfahrungen 'zweiter Hand' plädiert) und schließlich nach dem praxeologischen, auf Zukunft und Handlung ausgerichteten Bezug gesellschaftlicher Sinndeutungen. Die Erfahrung des Krieges ist ein ausgezeichneter, sehr kohärent gestalteter Sammelband, der durchweg äußerst fundierte und hochwertige Beiträge vereinigt und von dem wichtige Impulse ausgehen dürften - nicht nur für die Geschichtswissenschaft und für die weitere Kriegsforschung, sondern für jegliche Art der kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit historischen Erfahrungsweisen.