"Süße Nägel der Passion"
Die Geschichte der Selbstkreuzigung von Franz von Assisi bis heute

Christoph Daxelmüller, Professor für Volkskunde an der Universität Würzburg, behandelt unter dem provozierenden Begriff der Selbstkreuzigung neben den Fällen von Stigmatisierung ein breiteres Spektrum von Äußerungen mittelalterlicher und neuzeitlicher christlicher Passionsfrömmigkeit. Nachrichten über Selbstkreuzigungen und Stigmatisierungen begegnen in der Geschichte des abendländischen Christentums erst vom frühen 13. Jahrhundert an. Insofern sind die Stigmatisierungen Indizien für einen tiefgreifenden Wandel der abendländischen Frömmigkeit im Zuge der seit der Jahrtausendwende und seit den Kreuzzügen zunehmenden Rückwendung der Frömmigkeit auf die Geschichte Jesu. 'Die mittelalterliche Weltsicht war konkret, realistisch und bedingungslos, der Körper Lernmittel noch bei der extremen Praxis des Nachvollzugs der Passion Christi. Die Texte der Mystiker berichten häufig von Visionen, in denen Jesus zum Mitleiden seiner Schmerzen aufgefordert habe' (S. 84). Als früheste belegte Selbstkreuzigungen nennt Daxelmüller den auf einem Konzil von Oxford 1222 behandelten Fall eines jungen Mannes, der sich als Christus ausgab, und den von Jakobus von Vitry (1170-1240) berichteten Fall eines Mannes aus Huy. Vom 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart werden mehr als 300 Fälle von Stigmatisationen gezählt, darunter 229 Stigmatisierte aus Italien. Die Einstellung der Zeitgenossen gegenüber solchen Selbstverletzungen sei gespalten gewesen zwischen Ablehnung und dem Vorwurf krankhaften Verhaltens (insania) einerseits und der Bewunderung beispielhafter Frömmigkeit andererseits. Nach dem Tode des Franziskus von Assisi wurde bekannt, daß er 'an seinem Körper die fünf Wunden trug, die in Wahrheit die Stigmata Christi sind' (Brief des Bruders Elias vom 4.10.1226). Die alten Berichte sprechen davon, daß sich in den Wunden der Hände und der Füße etwas wie Eisen oder Nägel befunden habe. Die franziskanischen Biographen und die Päpste Gregor IX. und Alexander IV. vertreten mit Nachdruck deren übernatürliche Verursachung. Der Autor sieht in den alten Berichten Hinweise darauf, daß sich 'in den Wunden tatsächlich Eisennägel oder Eisenreste befunden' haben (S. 105). Daß die Stigmatisation erst nach dem Tod des Franziskus bekannt wurde, könnte darauf verweisen, daß er, der 1223 eines der frühesten Weihnachtsspiele veranstaltet hatte, 'am Ende seines Lebens die Passion Christi als Teil der äußersten Vergegenwärtigung und spirituellen Annäherung an sich selbst inszenieren und sich kreuzigen ließ' (S. 110).

Der Befund erlaube die Frage, ob Franziskus von Assisi das Opfer eines Unfalls geworden sei (S.115ff). In der Folgezeit wurde das Empfinden körperlicher Schmerzen immer mehr 'legitimer Bestandteil des religiösen Lebens' (S. 121). Daxelmüller verdeutlicht dies, indem er die Darstellung ausweitet und mittelalterliche 'Leidensbiographien zwischen Passionsmystik und Nachfolgetat' (S. 123-143; Grabtuch von Turin, Passionsspiele) schildert. Aus dem anschließenden Ausblick auf die Neuzeit sind zu erwähnen die ausführlichere Darstellung der Karfreitagsprozessionen, der Konvulsionäre von St.Médard (Paris zwischen 1727 und 1759), des häufig beobachtbaren Abgleitens der Passionsfrömmigkeit in Hysterie und ins schlechthin psychisch Abnorme.

Daxelmüller fordert seine christlichen Leser auf, das Ausmaß an konkreter Leidensbejahung und grausamen Leidensbildern wahrzunehmen, welches sich mit der christlichen Tradition verbunden hat, und auch nicht zu übersehen, daß 700 Jahre einer Theologie des Leidens eine traumatische Befindlichkeit hinterlassen haben, die gleichermaßen zur Verdrängung wie zur morbiden Faszination führe (S. 264). Das 'Trauma der Kreuzigung Christi und des Menschen' breche immer wieder in der Literatur und in künstlerischen Aktionen auf. Das Kreuz habe die westliche Welt traumatisiert, das psychische Erleben so tief an sich gebunden, daß der Schmerz noch in säkularen Zeiten religiös gedeutet werden könne. Franziskus habe sich nicht nur für eine heitere, einfache Frömmigkeit ausgesprochen, sondern zugleich eine düstere Mystik vertreten, welche die Lust am Schmerz nicht gescheut habe (S. 271).