Brahms war von Natur aus ein verschwiegener Mensch, eine Haltung, die sich mit dem Alter noch verstärkte. Da er auch im Hinblick auf das eigene Schaffen wenig auskunftsfreudig war, bot sich die Rezeption seiner Werke als exempla einer absoluten Musik geradezu an. Jens Brachmann zeigt in seiner Arbeit, daß dieses heute noch geläufige Brahmsbild, das die Werke im wesentlichen strukturell, d. h. musikimmanent deutet, insofern einseitig ist, als es hauptsächlich auf das Instrumentalwerk ausgerichtet ist und die latenten, biographienahen Tiefenschichten vor allem des Brahmsschen Vokalschaffens, die den Brahms nahestehenden Zeitgenossen mehr oder weniger geläufig waren, ausgeklammert und so den Werken eine 'Funktionslosigkeit' zugeschrieben hat, die in Wirklichkeit nie gegeben war. Gerade die Gattung Lied, das bestätigt Brachmanns Untersuchung, zeichnet bisweilen eine besondere persönliche Dialogizität und Biographienähe aus.
Brachmanns Ansatz ist ein kommunikativ-diskursanalystischer. Methodischer Ausgangspunkt ist die Tatsache, daß Brahms sich zwar nie direkt zu seinen Werken äußerte, es aber eine Fülle von Zeugnissen gibt, die seinen 'ausgeprägten Hang zur vermittelten, quasi maskierten Selbstkundgabe' (S. 20) belegen. Eine solche Quelle bildet für den Autor auch Klingers Brahmsphantasie, die er als 'von Brahms zwar nicht selbst vorgenommene, aber zugelassene und befürwortete Selbstdeutung durch einen Anderen' liest.
Im ersten Kapitel rekonstruiert Brachmann anhand des Briefwechsels zwischen Brahms, Simrock und Klinger und der wenigen persönlichen Begegnungen die Entwicklung einer Beziehung, die etwa 20 Jahre
dauerte. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, daß der Dialog zwischen den beiden Künstlern ein hochgradig vermittelter war (vgl. S. 49) und beide den Dialog über die Werke dem persönlichen Austausch vorzogen, wobei sie sich 'regelrecht in einem verwirrend-unheimlichen Spiel mit dem Aussprechen des Unaussprechlichen' gefielen (vgl. S. 52). Dabei drängt sich natürlich die Frage auf, ob diese Art einer werkzentrierten Kommunikation nicht grundsätzlich eine Diskursform darstellt, in der sich ein spezifisch männliches Rollenverhalten spiegelt.
Im zweiten Kapitel leuchtet Brachmann die Lebensatmospähre als Grundlage für den 'hintergründigen Verhaltenskonsens' (S. 74) aus, auf dessen Folie die kommunikative Verständigung überhaupt erst gelingen konnte. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, daß
trotz feiner Differenzen im Einzelnen, die beiden Dialogpartner eine erstaunliche 'soziale und geistige Homogenität' (S. 130) verband. Gemeinsame Bezugspunkte sind das bürgerliche Arbeitsethos, die kunstphilosophische Rechtfertigung eigener Einsamkeit als Voraussetzung künstlerischen Schaffens, ähnliche künstlerische Vorlieben (Feuerbach, Böcklin, Menzel) und Kunstideale (z. B. die Wiederentdeckung der tragischen Antike und eine 'durch Modernitätsmüdigkeit und Zivilisationspessimismus getönte Italienschwärmerei'), sowie die Rezeption der Philosophie Schopenhauers.
Das dritte Kapitel arbeitet zunächst die Erzählstruktur von Klingers Brahmsphantasie heraus, wobei Brachmann eine novellenartige Schichtung dreier Ebenen (Rahmenerzählung, zwei Binnenerzählungen und Kernerzählung) auszumachen vermag, ein Formvorschlag, der gegenüber den bisherigen linearen Interpretationsvorschlägen eine überzeugende Alternative darstellt.
Im Mittelpunkt des vierten Kapitels stellt Brachmann anhand exemplarischer Analysen heraus, welche Aspekte der Brahmsschen Liedermusik Klingers Graphiken reflektieren. Dabei wird der inszenatorische Charakter der Klingerschen Graphiken deutlich. Großen Raum nimmt außerdem die Aufschlüsselung der untergründigen, subversiven Sexualsymbolik der Brahmsphantasien ein (S. 166 ff.), die Brahms seinerseits sehr genau verstanden, goutiert und in seinen Liedern auch gepflegt hat.
Das fünfte Kapitel wendet sich schließlich dem zweiten Teil der Brahmsphantasien zu und damit der Frage nach Klingers Aktualisierung des Prometheusmythos und seiner graphischen Reaktion auf Brahms' Schicksalslied. Klingers Prometheus erfährt die Deutung als Einsamkeitsikone. Sie steht für das weltanschaulich desintegrierte Individuum, das die absolute Autonomie als Scheitern und kommunikative Isolation erlebt und sich zugleich nach einem kommunikativen Gegenüber sehnt. Sie findet ihr Pendant im wortlosstillen, in aufhellendes
C-Dur gewendeten Orchesterepilog des Brahmsschen Schicksalsliedes. Das sechste Kapitel kann durchaus als eine Kritik der Ästhetik einer absoluten Kunst / Musik gelesen werden. Es beleuchtet aus unterschiedlichen Blickwinkeln den Zusammenhang zwischen Ästhetisierung, Rätselhaftigkeit und dem Verlust einer kommunikativen Unmittelbarkeit, der aus der kunstreligiösen Selbstbezüglichkeit der
autonomen Kunst unmittelbar resultiert. Brahms und Klinger haben sich an diesen kommunikativen Problemen, so Brachmann, vergeblich abgearbeitet.
Jens Brachmanns interdisziplinäres Buch, das im übrigen auch den eindrucksvollen Bildungshintergrund seines Autors belegt, gibt nicht nur der Brahmsforschung frische Impulse, sondern ist auch aus mentalitäts- und kunstgeschichtlicher sowie kulturwissenschaftlicher Sicht gleichermaßen anregend. Es führt darüber hinaus überzeugend die methodische Leistungsfähigkeit moderner musiksoziologischer Forschung vor, die die Musik selbst nicht aus den Augen verloren hat.