Hannah Arendt
Die Biografie

Ein zu hoch geschraubter Anspruch? Zu einer neuen Biographie über Hannah Arendt

Ihr Denken wird als „gegenwärtig“ charakterisiert, als „aktuell“. Hannah Arendts Schriften bewirken, daß die Philosophin, Journalistin und politische Theoretikerin als Zeitgenossin begriffen werden kann, als „Denkerin der Stunde“ (Richard Bernstein).

Wie bekannt sie ist, belegen allein schon die zahlreichen Biografien, z. B. von Wolfgang Heuer (1967; 4. Auflage 1997), Kurt Sontheimer (2005). Die Biographie von Alois Prinz („Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt“; 1998) ist ein Buch, das sich vor allem an interessierte junge Menschen wendet. 1995 wurde in der Synagoge Essen eine Ausstellung (mit Vorträgen namhafter Wissenschaftler) über Arendts Werk und Leben („Hannah Arendt, ´Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin´“) initiiert; das Begleitbuch gibt einen knappen, aber instruktiven Überblick für Leser/INNEN. 1986 (dt. 1990) veröffentlichte Derwent May ihre Hannah-Arendt-Biographie. Doch immer noch Maßstäbe setzend: die Biographie von der US-Amerikanerin (und Schülerin Arendts) Elisabeth Young-Bruehl (1982, dt. 1986). Hinzu kommen Monographien, die sich mit einzelnen Aspekten von Arendts Leben befassen: Elżbieta Ettinger veröffentlichte 1994 „Hannah Arendt ‒ Martin Heidegger. Eine Geschichte“. Antonia Grunenberg befasst sich ebenfalls mit dieser Beziehung („Geschichte einer Liebe“; 2006). Eine bedeutsame lebenslange Verbindung (die 1936 in Paris begann) ist indes die mit Heinrich Blücher: Innerhalb der Serie „Paare“ veröffentlichte Bernd Neumann 1998 eine Monographie der beiden: „Ja, Liebster, unsere Herzen sind eins an das andere gewachsen, und unsere Schritte gehen im Gleichmaß“, so schrieb eine Denkerin, die 1929 über den „Liebesbegriff bei Augustin“ promoviert hatte, später durchaus um die Krisen einer Ehe wusste und dennoch mit Heinrich Blücher ein lebenslanges Zwiegespräch geführt hatte.

Ein wichtiges Kapitel in Manfred Geiers 2012 veröffentlichter Monografie „Aufklärung. Das europäische Projekt“ ist Hannah Arendt gewidmet („Auf Kants Spuren: Karl Popper und Hannah Arendt“): die einzige Frau neben Olympe de Gouges. In Deutschland unbekannt ist – darauf weist Thomas Meyer in einer Anmerkung hin – die Arbeit von Laure Adler: „Dans les pas de Hannah Arendt (In den Fußstapfen von Hannah Arendt)“ (Paris 2005). Und sogar der Film nahm sich der großen Denkerin an (2013, mit Barbara Sukowa als Arendt).

Hannah Arendt ist also ein festumrissener Begriff, eine bekannte Persönlichkeit, wie die obige Aufzählung belegt: Eine übermächtige „Konkurrenz“, gegen die sich die neue dickleibige Arbeit Thomas Meyers behaupten muß, die zudem mit dem Anspruch auftritt „Die Biografie“ zu sein, d.h. eine fundamentale Arbeit. Meyer vertritt den Anspruch, „Arendts Leben und Werk für die eigene Gegenwart“ neu zu erschließen. Die Forderung des Denkens „ohne Geländer“, ist in der Tat eine Forderung Arendts, die angesichts zunehmender antisemitisch motivierter Übergriffe in Deutschland wieder von erschreckender Aktualität ist. Eigentlich ergibt sich so die Gegenwärtigkeit von Arendts Denken und Gesellschaftskritik von allein.

Es ist hier gleich festzuhalten, dass das besondere Verdienst Thomas Meyers vor allem in der Vorstellung und Auswertung bislang noch nicht publizierter (oder an entlegener Stelle publizierter) Texte, Reden und Briefe Arendts besteht (Der Autor berichtet übrigens im Nachwort, dass der Nachlaß Arendts durch die Library of Congress in Washington D. C. digitalisiert wurde) – eine große Überraschung, wenn wir die Vielzahl der Arbeiten über Arendt bedenken. Was indes die Lektüre streckenweise erschwert: eine gewisse Umständlichkeit und Langatmigkeit; erst ab der Mitte des 520-Seiten-Wälzers (übertroffen wird dies nur noch von der Arendt-Schülerin Young-Bruehl mit 740 Seiten, davon knapp hundert Seiten Anmerkungen) kommt die Sache langsam in Schwung, wird der Bericht lebendiger, anschaulicher – erreicht aber nicht die Anschaulichkeit der Arendt-Schülerin.

Einige Fragen scheinen offen zu bleiben: Meyer schreibt nicht, woran Hannahs Vater Paul Arendt litt und früh (1913) starb: Derwent May behauptet, er habe an Syphilis gelitten, war aber fest überzeugt gewesen, vor der Heirat geheilt gewesen zu sein. Auch Young-Bruehl und Sontheimer schreiben über eine Syphilis-Erkrankung von Paul Arendt. Die Behandlung hatte darin bestanden, ein Malariafieber hervorzurufen – „das war, bevor der deutsche Bakteriologe Paul Ehrlich Arsenverbindungen entwickelt hatte, um damit die Syphilis zu behandeln“ (Young-Bruehl). Thomas Meyers Biographie ist über weite Strecken auch eine Werkinterpretation und -beschreibung. Dies kommt wohl Meyers Intention entgegen, der sich als Herausgeber der Studienausgabe profiliert hat (der Flyer des Piper Verlags führt acht Titel auf). Ob deshalb über Strecken der biografische Aspekt in der Arbeit Meyers etwas langatmig und umständlich geriet?

Hervorzuheben bleibt die Tatsache, dass bislang unbekanntes Archivmaterial und andere bislang nicht wahrgenommene Texte Arendts vorgestellt werden, auch solche Arbeiten, die Arendt bedauerlicherweise nicht mehr fertiggestellt hatte und darum keinen Platz fanden in einer eigenständigen Edition (mit Kommentar). Wichtig ist hierbei die Zeit in Paris nach der Flucht aus Deutschland und die Zeit in den USA, als Arendt 1951 ihr erstes Hauptwerk „Origins of Totalitarism“ veröffentlichte, das vier Jahre später auf Deutsch unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ veröffentlicht wurde. In diesem Buch hatte Arendt vom „radikal Bösen“ gesprochen. Sie griff diese Wortfügung Kants auf, um den Schrecken anzudeuten, der sich politischen, geschichtlichen und moralischen Maßstäben entzieht und deshalb von Kant in theologischer Hinsicht reflektiert worden war. Der Versuch totaler Herrschaft, „in den Laboratorien der Konzentrationslager das Überflüssigwerden von Menschen herauszuexperimentieren“, war durch den totalitären Glauben motiviert, dass alles zerstörbar ist, auch das Wesen des Menschen. Radikal böse war der Totalitarismus als ein System, in dem alle Menschen gleichermaßen überflüssig wurden und die Welt nur noch als völlig sinnlos erschien. Das Schreiben Arendts: ein Kampf gegen dieses Sinnlos Gemacht Werden der menschlichen Existenz, gegen ihr Überflüssig Gemacht Werden.

Thomas Meyer greift weit aus – und weit zurück in der Geschichte der Familie, obwohl von Hannah Arendt weder in Briefen noch in Berichten über sie „melancholische Anwandlungen“ überliefert sind, d. h. ein „Zurücksehnen nach vergangenen Zeiten“, „das Erlebte beschwörende Nostalgie“. Das leuchtet ein. Arendt war eine Denkerin der Zukunft, nicht der Vergangenheit. Sie verglich politische Systeme; Nostalgie oder Sentimentalität sind schlechte Ratgeberinnen. Wenn Meyer zitiert – auch z. B. alte Stadtbeschreibungen Königsbergs oder Zitate Heideggers oder von Jaspers – benutzt er einen anderen Schrifttypus, um das Zitat optisch hervorzuheben.

Von Paris aus hatte Arendt bei der Jugendalija geholfen. Junge Menschen, Kinder, Jugendliche bekamen die Chance, legal nach Palästina/Israel einzuwandern. An heute entlegener Stelle – im „Journal Juif“ vom 28.Juni 1935 – berichtet Arendt von ihrer Arbeit, aber auch den Tragödien, deren Zeugin sie war: „Strandgut!“ Seit zweitausend Jahren wandern Juden durch die Welt und nehmen im Schlepptau ihr Hab und Gut, ihre Kinder und ihre Sehnsucht nach einer Heimat mit.“ Oft verlieren sie alles – was sie gewinnen: „die Erfahrung der Traurigkeit – die Fähigkeit, sich anzupassen und sich nicht vernichten zu lassen.“

Für Kinder indes ist eine derartige Erfahrung vernichtend: „Kinder, die noch nicht in der Lage sind, dieses Schicksal vollständig zu verstehen, verlieren alles: einen stabilen Haushalt, eine normale Umgebung, ihr Heimatland, ihre Freunde und ihre Sprache (das gilt aber auch für Erwachsene! D. Verf.in). Sie werden nicht nur entwurzelt, sie werden bald in die Irre geführt. (…) Die deutsche Emigration hat uns Kinder, Jugendliche und junge Menschen ohne Zukunft gebracht, die überzeugt sind, dass sie Pech haben und es nie zu etwas bringen werden.

Ihre Eltern, von Sorgen geplagt, haben keine Zeit, sich um sie zu kümmern. Ihr Leben liegt hinter ihnen; was sie erreicht oder nicht erreicht haben, ist eine beschlossene Sache. (Arendt ist der lebende Beweis, dass dies nicht stimmt! D. Verf.in). Sie denken kaum an die Zukunft“: weil sie mit dem täglichen Überlebenmüssen befasst sind, was alle weitere Energien aufzehrt.

Arendt schlägt eine Lösung für die Kinder vor: die Jungend-Alija. In dem Brief, den die Eltern erhielten, „hieß es, dass zusätzliche Zertifikate für Palästina für junge Menschen vergeben werden. Zugegeben, nicht sehr viele. Aber die jungen Leute, die keine Papiere haben, keine Möglichkeit, in Europa etwas zu lernen, und die ziellos auf den Straßen herumtrödeln, werden in Eretz Israel aufgenommen. Heute ist unser Land groß genug und ausreichend entwickelt, um die Ausbildung eines Teils seiner Jugend zu übernehmen.“

Ein weiterer Text Arendts hat den Titel „Der ‚alte Zionist‘“: „Eines schönen Tages kommt ein Vater mit seinem Sohn. Adresse: Obdachlosenheim. Er ist ‚ganz einfach‘ dort gelandet. Zuerst wollte er direkt von Deutschland nach Palästina. Er durfte nicht einmal aussteigen, sondern wurde nach Marseille weitergeschickt. Von dort aus war es nur ein Schritt ins Obdachlosenheim in Paris.“ Der fünfzehnjährige Sohn begleitet ihn. „Während der Vater von seiner Odyssee erzählt, ist der Sohn still und ungesellig. Er schämt sich für die vielen Mißgeschicke, er ärgert sich über sie, er tut so, als ob ihn das alles nichts anginge, als ob es die Geschichte eines anderen wäre. Er will nicht mit dem Unglück in Verbindung gebracht werden! Andererseits verkündet er sofort, dass er ein ‚alter Zionist‘ ist“. Am nächsten Tag kommt er ohne seinen Vater. Der Sohn „sollte sich nicht für sein Unglück schämen!“ schreibt Arendt. Geht es doch nicht „um persönliches Unglück, es ist das Unglück eines ganzen Volkes“. Die jungen Leute kommen oft ohne ihre Eltern, besprechen sich untereinander. „Das ist die beste Propaganda.“

Im Artikel „Bestmögliche Hilfe!“ betont Arendt, dass die Jugend-Alija keine Wohltätigkeitsorganisation sei „Gewiß muß man denen helfen, die kein Geld haben. Aber Geld allein löst nicht das Problem dieser Umherirrenden.“ Arendt berichtet von den Eltern, die in Paris „gelernt haben, zu ‚schnorren‘“. Die Älteren wurden „moralisch ruiniert“; sie wurden entweder „unterwürfig“ oder „unverschämt“. Diese Beschreibung der existentiellen und damit charakterlichen Auslöschung von Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet und sich eine angesehene Existenz aufgebaut haben – die nun in der Emigration obsolet gemacht, erinnert mich an die Charakterisierung dieser Verzweifelten (in diesem Fall der „Intellektuellen“, aber die Beschreibung der Misere gilt eigentlich für alle Flüchtlinge) durch Theodor W. Adorno im ersten Teil der „Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ von 1944: „Jeder (…) in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen, wenn er nicht hinter den dicht geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber belehrt werden will. Er lebt in einer Umwelt, die ihm unverständlich bleiben muß, auch wenn er sich in den Gewerkschaftsorganisationen oder dem Autoverkehr noch so gut auskennt; immerzu ist er in der Irre. Zwischen der Reproduktion des eigenen Lebens unterm Monopol der Massenkultur und der sachlichverantwortlichen Arbeit herrscht ein unversöhnlicher Bruch. Enteignet ist seine Sprache und abgegraben die geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog. Die Isolierung wird umso schlimmer, je mehr feste und politisch kontrollierte Gruppen sich formieren, misstrauisch gegen die Zugehörigen, feindselig gegen die abgestempelten anderen. Der Anteil des Sozialprodukts, der auf die Fremden entfällt, will nicht ausreichen und treibt sie zur hoffnungslos zweiten Konkurrenz untereinander inmitten der allgemeinen. All das hinterlässt Male in jedem Einzelnen. Wer selbst der Schmach der unmittelbaren Gleichschaltung enthoben ist, trägt sein besonderes Mal eben dieser Enthobenheit, eine im Lebensprozeß der Gesellschaft scheinhafte und irreale Existenz. Die Beziehungen zwischen den Verstoßenen sind noch mehr vergiftet als die zwischen Eingesessenen. Alle Gewichte werden falsch, die Optik verstört. Das Private drängt ungebührlich, hektisch, vampyrhaft sich vor, eben weil es eigentlich nicht mehr existiert (…).“

Wir begreifen heute und mehr denn je – oder sollten es begreifen - was das bedeutet, wie treffend, wie wahr die Beschreibung der beiden Autor/IN ist, in einer Zeit, in der wieder hunderttausende Menschen auf der Flucht sind, vor Kriegen, in akuter Bedrohung; auch deshalb zitierte ich beide Texte. Hannah Arendt: „Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.“ Diese Aktualität des Denkens von Arendt (die in Paris etliche Jahre der praktischen Arbeit, d.h. der Rettung junger Menschen durch die Jugend-Alija widmete statt zu „philosophieren“) bildet den Leitfaden von Thomas Meyers Biographie. Ihm folgt der Autor anhand neu erschlossener Textzeugen von Königsberg via Paris nach New York; von der Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustin bis hin zum – unvollendeten – Opus Magnum „Vom Leben des Geistes“.

Im Klappentext über Meyers Arbeit heißt es, dass sie „sowohl für Interessierte wie für Kenner das Phänomen ‚Hannah Arend‘ verständlich“ machen würde. Dem kann ich nicht zustimmen. Die Stärke von Meyers Arbeit ist zugleich ihre Schwäche – und umgekehrt. Sie ist tiefschürfend, intensiv – verliert sich aber in Details, ohne das Geschehen – eine Biographie der Protagonistin – recht vorwärts zu bringen. Mein Eindruck: Thomas Meyer wollte zu viel – Biographie – Werkinterpretation und Erschließung bislang nicht beachteter Textzeugen. Es fehlt z. B. eine ein gehende Charakterisierung mancher Personen in Arendts Leben – ein Aspekt, den Young-Bruehl am. E. besser leistete (z. B. in der Beschreibung der Wünsche Heideggers an die junge Studentin).

Was würde Hannah Arendt zu den heutigen Auswüchsen eines neuen Antisemitismus sagen, 85 Jahre nach der Reichspogromnacht, als in ganz Deutschland ein Glas- und Scherbengewitter losbrach und Menschen wie räudige Hunde erschlagen wurden? „Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher“ lautet der Titel eines im Jahre 2000 von Marie Luise Knodt herausgegebenen Sammelbandes von Arendts Texten, die sie zwischen 1941 und 1945 in der deutsch-jüdischen Emigrantenzeitung Aufbau veröffentlicht hatte: ein heute wieder nachdenklich und wütend machender Titel. Wütend auch deshalb, weil diejenigen, die Arendts Texte lesen sollten, es nicht tun werden.