Gegen das Schweigen
Meine etwas andere Kindheit und Jugend

Der Kampf gegen das Schweigen über weibliche Homosexualität – Luise F. Puschs etwas andere Autobiographie

Von den ersten Nachkriegsjahren durch die Wirtschaftswunderzeit in die „Swinging Sixties“: Geschichten von Frauen, die in dieser Zeit entdeckten, lesbisch zu sein, waren kaum erzählbar; es gab keine Sprache dafür. Was nicht sein durfte, existierte einfach nicht. Das machte es schwer zu erkennen, was mit einer eigentlich los war; und warum die Panikattacken, die Depressionen, die Schweißausbrüche. In den reaktionären 1950er und 1960er Jahren bis weit über die sog. Sexuelle Revolution hinaus waren homosexuelle Kontakte bedrohlich. Nur Alleinsein bot eine gewisse Erholung vom Zwang zur Verstellung, zur sozialen Mimikry; eine Lösung des Problems war das nicht.

Homosexuelle Männer wie Didier Eribon, Paul Monette oder Daniel Schreiber veröffentlichen Berichte über die Kämpfe und Nöte ihrer Kindheit und Jugend – lesbische Frauen schwiegen.

Luise F. Pusch bricht in ihrer „Autobiographie mit dem programmatischen Titel „Gegen das Schweigen. Meine etwas andere Kindheit und Jugend“ das lähmende Totschweigen über das Heranwachsen in den homophoben Nachkriegsjahrzehnten.

Die Autorin wird feministischen Kreisen sowohl durch ihre sprachkritischen Schriften und Polemiken seit 1983 als auch durch ihre feministischen (d.h. patriarchats-kritischen) Monographien („Schwestern berühmter Männer. Zwölf biographische Portraits, 1985; „Töchter berühmter Männer. Neun biographische Porträts, 1988; „Mütter berühmter Männer. Zwölf biographische Portraits“, 1994) längst ein festumrissener Begriff sein. Gemeinsam mit Senta Trömel-Plötz und Marlies Hellinger begründete sie die feministische Sprachwissenschaft.

Neben ihrer sprachwissenschaftlichen und –kritischen Arbeit kreierte und arbeitet sie seit 1982 an einer Frauenchronik und der Datenbank FemBio. Darin sind 32.000 Biographien bedeutender Frauen zusammengetragen, von denen 12.000 online verfügbar sind: Dies ist der Fundus für den Kalender „Berühmte Frauen“, den Pusch seit 1987 herausbringt.

Über das Thema „Ruhm“ läßt sich trefflich räsonieren… Ist „Frauenliteratur“ (Tja, und warum wohl ist eigentlich nie von „Männerliteratur“ die Rede?) wirklich „ohne Tradition“, wie ein 1987 von Inge Stephan, Regula Venske und Sigrid Weigel herausgegebene Anthologie betitelt ist?

Weder Schreiben noch Malen, Philosophieren oder anderes schöpferisches Tun ist voraussetzungslos, geschieht im luftleeren Raum, wie 1930 Virginia Woolf erkannte. Doch auch sie beklagte die geringe Zahl schöpferisch begabter und tätiger Frauen z.B. in der Musik: Außer ihrer Freundin Ethel Smyth und Germaine Tailleferre wußte sie keine weitere Komponistin.

Heute wissen wir mehr. Aber dieses seit Generationen verschüttete weibliche Erbe auszugraben ist mühevolle Arbeit, denn: „Für nichts wird so viel Reklame gemacht wie für Männer. Unentwegt erinnern sie an sich selbst: auf Geldscheinen und Gedenkmünzen, mit Bronzebüsten und Straßenschildern, in Lexika und in Zitatensammlungen. Frauen kommen dabei, bzw. kamen bis vor kurzem, so gut wie nicht vor. Und das ist auch nicht verwunderlich. Männer überliefern nur, was sie ererbt von ihren Vätern – das ‚mütterliche‘ Erbe müssen die Frauen sich schon selbst erwerben und verbreiten. Allerdings sind die Informationen über bedeutende Frauen der Vergangenheit schwer zugänglich, nur mühsam und eher zufällig auffindbar in dickleibigen Werken über ‚wichtige Männer‘. Aus dieser Mangellage heraus entstand die Idee für die Datenbank ‚Bedeutende Frauen international‘. Seit 1982 werden frauenbiographische Daten gesammelt und gespeichert (…)“, erklärt Pusch im Nachwort zu ihrem Kalender „Berühmte Frauen“.

Eine Frau, die selbst etwas sein und bedeuten will; die nicht bloßes Anhängsel eines „bedeutenden Mannes“ sein will, sondern selbst etwas bedeuten und leisten will, geht immer noch ein hohes Risiko ein: Dies zeigt uns auf erschütternde Weise die dreibändige Monographie, die Pusch zusammen mit Sibylle Duda herausbrachte: „Wahnsinnsfrauen“: 1992, 1995 und 1999.

Erfreulicher ist da die 2007 mit Andrea Schweers herausgebrachte Sammlung bedeutender Kämpferinnen und Politikerinnen mit dem Titel „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen“. Lauter großartige, mächtige Frauen – gibt es Schöneres?

Bereits 1981 veröffentlichte Pusch – unter dem Pseudonym Judith Offenbach – „Sonja. Eine Melancholie für Fortgeschrittene“: das Protokoll einer Trauer über die Beziehung zu einer gelähmten Freundin.

Vielleicht war es Puschs erster tastender Versuch, eine Sprache zu finden für das, was Liebe zwischen Frauen ausmacht. Rückblickend schreibt Pusch: „Ich habe es überlebt. Aber meine Partnerin beging 1976 Selbstmord.“ Ihr Buch „Sonja“ ist auch ein Bericht über „zehn Jahre verzweifelten Widerstands im Versteck“.

Die Erinnerungen an ihre bedrückende lesbische Kindheit und Jugend schrieb Luise F. Pusch im Sommer 2020; als Trigger wirkte der Lockdown wegen Corona. Mensch war auf sich selbst zurückgeworfen. Der Lockdown, die „erzwungene Reduktion des Lebensraums auf die eigenen vier Wände, die die Mehrheit der Bevölkerung kaum ertragen konnte“, war für „eine Überlebende des lesbischen Lockdowns der Wirtschaftswunderzeit (…) heimatlich und vertraut (…). Wie etwas, das viele Lesben in meinem Alter früh gelernt haben, wofür wir in der Gesellschaft, in die wir hineingeboren wurden, hervorragend abgerichtet wurden.“

Die Autobiographie Puschs besteht aus fünf Kapiteln und der Schlussbemerkung. „1944-1945“ behandelt die Herkunft und die frühe Kindheit; dabei berichtet Pusch von Übergriffen durch einen Liebhaber der Mutter. Diese glaubt Luise und wirft den „Onkel“ raus. Pusch berichtet auch von frühen Lese-Erfahrungen – und vom Ekel vor männlicher Sexualität, die Frauen entstellt, d.h. schwanger macht. Das zweite Kapitel, „1954-1957“ berichtet von einem „Abstieg“:  Die Autorin erlebt, dass sie, sonst Klassenbeste, diesen Rang an ein anderes Mädchen abtreten muß. Doch Charlotte wird zur ersten, uneingestandenen Liebe.

Ein weiterer Anlaß für Scham: Mittellosigkeit. Von einem Preis für „Bildungsmittel für Bedürftige“, den Luise gewinnt, stottert die Mutter das Schulgeld ab und kauft Kohlen für den Winter. 1966, im Alter von 22 Jahren, gesteht Luise ihrer Mutter, daß sie lesbisch sei. Skandal! Die Mutter hat Angst, „dass ihr mühsam erkämpfter Status“ (d.h. als fast uneheliche Mutter, die gerade noch rechtzeitig heiraten konnte) gefährdet sei.

Das dritte Kapitel „1957-1960“ berichtet vom Besuch der Freundin Charlotte (die in großbürgerlichen Verhältnissen lebt), was Luise mit Scham erfüllt:  die „ärmliche Wohngegend“, die beengte Wohnung, die „hässlichen Möbel“. Die Mutter Charlottes schenkt Luise schöne Kleider und ermöglicht ihr sogar Klavierunterricht. Später wird diese Mutter mittellose Schriftsteller unterstützen.

Lili Palmer, Kim Novak und Greta Garbo, androgyne Frauentypen, werden zum ersten Schwarm der Autorin. Und Literatur wird zur großen Entdeckung: Virginia Woolf, und auch das 1958 erschienene „Nachtgewächs“ von Djuna Barnes: „Ich las es mit großem Staunen: Da wurde davon erzählt, wie eine Frau einer anderen Frau verfällt. (…) Und niemand regte sich darüber auf, redet auch nur darüber.“

Im vierten Kapitel berichtet die Autorin über ihre Oberstufenzeit, über Freundschaften, über Reisen. Eine Entdeckung (die dann zu einem Porträt in FemBio führen wird) ist der Roman „Dusty Answer“ (dt. Dunkle Antwort) von Rosamond Lehman. Der Roman der damals Sechsundzwanzigjährigen machte im angelsächsischen Sprachraum Furore: es geht um lesbische Beziehungen. „Ein Jahr vor Virginia Woolfs Orlando und Radclyffe Halls Well of Loneliness, das einen Skandal auslöste.“

Pusch berichtet von einem Fall von Sexualterror in einer Familie. Der Vater belästigt die eigene Tochter sexuell. Die Sache wird anfangs vertuscht, um den Vater arbeitsfähig zu erhalten, damit er die große Familie ernährt. Doch er landet schließlich in der Psychiatrie, die Familie bricht auseinander. „Damals glaubte man wohl noch, dass ein Vater, der seiner eigenen Tochter so etwas antat, wahnsinnig sein müsste.“ Die Mutter, die zum Mißbrauch der Tochter geschwiegen hatte, muß mit ihren Schuldgefühlen fertig werden.

Erst die Frauenbewegung brachte „Licht in diese Finsternis“, und die „Sexualterroristen“ können bestraft werden, auch wenn die Dunkelziffer immer noch hoch ist.

Die Studentin spricht wegen ihres starken Schwitzens (das mit Beginn der Pubertät angefangen hatte) und ihren Ängsten mit einem Psychologen. „Vieles war mir damals noch nicht klar, auch nicht der Zusammenhang zwischen meiner ständigen ängstlichen Anspannung und der extremen Homophobie der Zeit.“ So begann „im Alter von 19 Jahren meine Odyssee durch diverse Psychotherapien. Sie sollte – mit langen Unterbrechungen – 13 Jahre dauern. Sie half mir immerhin, das damals eigentlich unmögliche Leben als Lesbe auszuhalten, mein Studium zu überstehen.“ Nicht helfen konnte sie bei Puschs Liebesbeziehungen. „Das schaffte erst die Frauenbewegung, die mir mein letzter Therapeut mit Nachdruck empfahl“, doch die Heilung ihrer posttraumatischen Belastungsstörung „setzte ein, als meine jetzige Partnerin Joey und ich uns zusammentaten im märchenhaften Sommer des Jahres 1986.“

Es bleibt die Forderung, in der „Schlussbemerkung“ formuliert: „Wir müssen uns zu Wort melden und sichtbar sein, damit künftigen Generationen von Lesben und Schwulen die Tortur erspart bleibt und sie als gleichwertige Menschen in unserer Gesellschaft aufwachsen. Deswegen muß das Schweigen ein Ende haben.“

Pusch zitiert einen Wikipedia-Artikel „Coming out“. Darin heißt es: „Das Überwiegen eines heteronormativen Welt- und Familienbildes – etwa die ‚Papa-Mama-Kind‘-Konstellation als gesellschaftliche Norm – in den meisten heutigen Gesellschaften macht den (sic) Homosexuellen fast automatisch zum ‚andersartigen‘ Außenseiter, üblicherweise auch in der Selbstwahrnehmung.“ Es „geschieht also, um mit Wikipedia zu sprechen, automatisch, du erlernst die heteronormative Ordnung der Dinge genau wie deine Muttersprache. Wenn du dann merkst, dass du nicht das Geschlecht liebst, dass du lieben sollst, merkst du, dass du anders bist – und nicht nur anders, sondern abartig. Schließlich lernst du auch noch, dass es besser wäre, wenn es dich gar nicht gäbe. Jedenfalls war das ‚zu meiner Zeit‘ so, in den fünfziger und sechziger Jahren in der BRD. Heterosexuelle machen – logisch – diese Erfahrung nicht, und manche können sich anscheinend nicht vorstellen, dass es erdrückende Verbote gibt, die gar nicht ausgesprochen werden müssen, um wirksam zu sein.“

Darum entstand bei einigen Erstleserinnen der Autobiographie der Eindruck, dass Pusch als heranwachsende Lesbe gar nicht diskriminiert worden wäre.

Bereits die Zehnjährige hatte sich in eine Freundin verliebt – und offenbarte sich ihr nicht. „Ich wusste schon damals, dass ich der geliebten Freundin davon nichts erzählen durfte, und auch niemandem sonst. Woher ich das wusste? Woher soll ich das wissen? Wissen wir genau, wann, wie und wo wir die Regeln der deutschen Grammatik erlernt haben? Du nimmst sie auf wie durch Osmose. Heute nennt man das ‚Sozialisation‘. Es gab zu der Zeit den schwulen Herrn Kleinert, über den wurde gemunkelt. Irgendetwas Schreckliches stimmte nicht mit ihm. Außerdem, hatte ich mit acht, neun Jahren schon viel von Oscar Wilde gehört und gelesen, wahrscheinlich auch etwas über seine ‚ekelhaften‘ Männerbeziehungen. Und meine Familie war extrem christlich. Die extreme Homophobie der monotheistischen Religionen ist ja bekannt.“

Luise F. Pusch war zum Schweigen verdammt, „was aber die anderen natürlich nicht davon abhielt, über Homosexualität herzuziehen. Manche Homosexuelle stimmten sogar in den Chor der Verleumdung ein, um bloß keinen Verdacht auf sich zu ziehen. Bis heute gehören ‚schwul‘ und ‚Lesbe‘ zu den beliebtesten Schimpfwörtern in den Schulen. Jungen Lesben und Schwulen wird so nachhaltig Leid und Schaden zugefügt, selbst wenn sie ‚nur‘ mithören und gar nicht die eigentliche Zielscheibe sind. Damals litt ich und durfte es nicht zeigen, bekam also niemals Mitgefühl (…).“ Wenn die Autorin Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit erlebt, wirkt das wie eine Retraumatisierung.

Keineswegs befreiend, sondern „retraumatisierend“ war auch das Aufschreiben ihrer Lebensgeschichte, weshalb sie das Schreiben „so schnell wie möglich“ hinter sich bringen wollte. Die Begegnung mit ihrem jugendlichen Ich erzeugte in Pusch „oft einen ziehenden Schmerz wie von bodenloser Trauer. Ich litt mit dem kleinen Mädchen, das mutterseelenallein, ohne Durchblick, immer angstvoller durch diese gefährliche Welt stolperte. Ich hätte der Dreizehn-, der Neunzehnjährigen so gerne beigestanden, während die Tortur an ihr vollzogen wurde.“

Sie nennt das so Offensichtliche – und offen Verborgene – beim Namen: „Extreme Homophobie lässt sich nicht allein an der offenen Ablehnung von außen, an konkreten Beispielen für Diskriminierung festmachen. Die Menschen haben sie vielmehr so tief verinnerlicht, dass Staat und Gesellschaft kaum noch Druck auszuüben brauchen. Die Gesellschaft jener Zeit, mein Umfeld und mein Aufwachsen, waren geprägt von impliziter Verachtung und Ausgrenzung, die bei mir Selbstverachtung und eine jahrzehntelange schwere Angststörung auslösten.“

Bis männliche und weibliche Homosexualität als eine Möglichkeit menschlicher Sexualität offen und ohne Gehirnwäsche oder Druck anerkannt wird, ist es indes immer noch ein weiter Weg.