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Warum wir fühlen, was wir sind

Warum sollten sich Literaturwissenschaftler:innen mit neurowissenschaftlichen und neuropsychologischen Forschungen beschäftigen? Eine zentrale Antwort auf diese Frage ist, dass diese Disziplinen einige fundamentale Gemeinsamkeiten haben, etwa die Beschäftigung mit einem der grundlegenden Bedürfnisse und Merkmalen menschlichen Verhaltens: dem Erzählen, das Gedächtnisinhalte und Bewusstsein voraussetzt. Aber auch die damit verbundene existenzielle Überlegung nach dem, was menschliches Bewusstsein überhaupt ist, beschäftigt die Literatur und Literaturwissenschaftler:innen bereits viel länger, als es Neurowissenschaften überhaupt gibt. Wie wird das ‚Ich‘ erzeugt, das sich selbst und anderen unablässig Geschichten erzählt? Wer ist diese:r Erzähler:in im Gehirn? Mit der Realität von Künstlichen Intelligenzen (KI) werden diese Fragen nur noch drängender. Denn immer offensichtlicher wird, dass es Strukturen gibt, die ähnlich wie die neuronalen des Gehirns auch außerhalb des Menschen und anderer Lebewesen entstehen können. Spätestens nach dem Erscheinen des Buchs des Neurowissenschaftlers und Psychoanalytikers Mark Solms, der damit an Sigmund Freud anknüpft und einige seiner Annahmen ‚aktualisiert‘ sowie auch die gängige Meinung, die Psychoanalyse sei nicht vereinbar mit den heutigen Erkenntnissen der Neurowissenschaften widerlegen möchte, ist auch klar, dass es längst (realistische) Pläne gibt, subjektiv empfindende, fühlende und handelnde KIs entstehen zu lassen.

Wir sind unser Bewusstsein – so erscheint es uns Menschen zumindest. Aber gleichzeitig erfahren wir alle täglich, dass wir viele Dinge tun und Entscheidungen treffen, ohne diese bewusst zu erleben oder darüber nachzudenken. Wir führen diese Handlungen im allgemeinen Sprachgebrauch auf „Intuition“, „Bauchgefühl“ oder auch das „Unterbewusstsein“ zurück. Die grundsätzliche und übereinstimmende Annahme der Neurowissenschaften ist dabei, dass unser Gehirn konstruiert ist, um unbewusst (in den meisten Fällen) und bewusst (seltener) Informationen zu verarbeiten, die sowohl aus unterschiedlichen äußeren Einflüssen in Form von Repräsentationen sowie Zuständen innerhalb des Körpers generiert werden. Das Gehirn hat dafür neben einer Wahrnehmungsfunktion auch eine Gedächtnis- und Exekutivfunktion, um klassifizieren und vergleichen, dann kodieren und speichern und schließlich Entscheidungen treffen zu können. Offensichtlich ist außerdem, dass das Spüren und Fühlen für uns Menschen wie für alle Lebewesen dabei von ganz entscheidender oder sogar existenzieller Bedeutung sind. Allgemein gilt bislang überwiegend allerdings die Annahme, dass der neue Teil des Gehirns, der Kortex (Hirnrinde), der Sitz der ‚Intelligenz‘ ist und damit auch der Ort sein muss, an dem Bewusstsein erzeugt wird. Solms, der u. a. Professor und Direktor für Neuropsychologie am Neuroscience Institute der University of Cape Town (UCT) ist und als Begründer der Neuropsychoanalyse gilt, widerspricht dem jedoch auf eine sehr überzeugende Art und Weise. Er hält die kortikale Theorie des Bewusstseins nicht für tragfähig und legt ausführlich dar, dass das Fühlen bzw. Affekte gegenüber kognitiven Prozessen Vorrang hat. Mittlerweile zeigten wissenschaftliche Daten in „überwältigender Fülle“ (S. 77), so Solms, dass wir den Großteil dessen, was wir wahrnehmen und lernen, unbewusst aufnehmen. „Wahrnehmung und Erinnerung sind keine inhärent bewussten Funktionen des Gehirns“ (ebd.) im Gegensatz zu Gefühlen, die „immer, ohne Ausnahme, bewusst sind“ (S. 95). Solms unterscheidet dabei zwischen Bedürfnissen und Gefühlen bzw. Affekten. Körperliche Bedürfnisse können auch autonom registriert und reguliert werden, Affekte hingegen nicht. Hier differenziert er in körperliche, dazu gehören interozeptive, also homöostatische (Hunger und Durst etwa), und exterozeptive, also sensorische (Schmerz und Ekel z. B.) Affekte sowie emotionale (die nicht ohne weiteres als körperliche Affekte bezeichnet werden können) Subtypen. Bei den emotionalen Affekten identifiziert er sieben Gefühle, die „die basalen Bestandteile des gesamten emotionalen Repertoires des Menschen“ bilden, die sich miteinander mischen und „Verbindungen mit höheren kognitiven Prozessen eingehen“ (alle Zitate S. 99). Diese Affekte nach Solms sind Lust (körperlich wie emotional), das Such-System (emotionale von Dopamin gesteuerte Standardemotion, die Explorations- und Stöber-Verhalten auslöst und proaktiv auf Ungewissheit reagiert im Unterschied zu den übrigen Basisemotionen), das Wut-, Furcht-, Panik- oder Verlassenheitspanik-System, das Fürsorgesystem (vermittelt durch Östrogen, Prolaktin, Progesteron und Oxytocin) sowie das System Spielen.

Solms legt außerdem dar, dass das Bewusstsein entgegen der gültigen Standardannahme durch eine vollständige Läsion des Kortex nicht vollständig zerstört wird. Dagegen löschen bereits geringfügige Verletzungen im retikulären Aktivierungssystem im Hirnstamm das Bewusstsein komplett aus, chemische Stimulation oder Blockierung (etwas durch Antidepressiva oder Antipsychotika) lösen Veränderungen aus. „Der Kortex wird nur insoweit bewusst, als er vom Hirnstall aktiviert wird“ (S. 120), so ergeben die Untersuchungen und Schlussfolgerungen von Solms. Kortikales Bewusstsein ist damit abhängig vom ‚Arousal‘ durch den Hirnstamm, das durch synaptische Transmission durch die sogenannten Neurotransmitter binär entweder hemmend oder erregend erfolgt. ‚Bewusst‘ wird uns nur, was ein hohes Arousal hat. Informationen, die ein niedriges Arousal generieren, laufen automatisiert und unbewusst (Atmung etwa wird erst dann „bewusst“, wenn es ein Problem damit gibt). Das gilt für innere wie äußere Informationen. Die andere Form der neuronalen Aktivität wird als postsynaptische Modulation bezeichnet und verläuft chemisch über Neuromodulatoren, die sich im ganzen Gehirn verteilen und den Gesamtzustand des Kortex regulieren. Solms – „vorläufigen“ (S. 127) – Beschreibungen und Erklärungen entsprechend, erfolgt der Umschlag zum affektiven Arousal in einem kleinen, dicht gepackten Neuronenknoten, der den zentralen Kanal des Mittelhirns (ein Teil des Stammhirns) umgibt, dem sogenannten periaquäduktalen Grau (PAG), das anatomisch unter dem Kortex liegt. Hier treffen sämtliche affektiven Schaltkreise zusammen. Das PAG ist das wichtigste Output-Zentrum für Gefühle und emotionale Verhaltensweisen. Es macht seinen Einfluss vorwiegend aufwärts in den Kortex geltend, während dieser seine Signale ausschließlich hinunter ins PAG sendet. Der Kortex ist dabei ganz wesentlich für die Bereitstellung und den Abruf der vielfältigen Gedächtnis- und Wissensinhalte (die ja ebenfalls Gedächtnisinhalte sind) des Langzeitgedächtnisses zuständig und dem ‚Abgleich‘ zwischen eingehenden Informationen (bzw. vielmehr den Repräsentationen oder Erinnerungsbildern dieser Informationen) und dem, was im Kortex gespeichert ist. Erinnerungsbilder sind – wie hinlänglich bekannt ist – „Endprodukte einer zahlreiche Stufen durchlaufenden Informationsverarbeitung“ (S. 78). Hinzu kommt, dass der Kortex seine Informationsverarbeitung größtenteils unbewusst erledigt (etwa Lesen oder Gesichtserkennung). Anschließend werden die so angereicherten Informationen wieder nach unten an das „Entscheidungsdreieck“ (S. 131) im Mittelhirn gesendet. Der Ablauf ist demnach – sehr grob und simplifiziert – so, dass sensorische eingehende Signale im Mittelhirn herauf- oder herunterreguliert werden. Das funktioniert über das retikuläre Aktvierungssystem. Hier werden konkurrierende Signale beurteilt und der „Sieger“ wird dann vom retikulären Aktvierungssystem an das Vorderhirn gesendet, das auf der Grundlage von Erwartungen operiert. Ganz vereinfacht bedeutet das, dass ein Signal dann Priorität erhält, wenn es in positiver oder negativer Hinsicht stark von den Erwartungen abweicht. Dann werden ganze Schwärme von neuromodulierenden Molekülen aus dem retikulären Hirnstamm – Dopamin, Noradrenalin, Azetycholin, Serotonin, Histamin sind für das Arousal zuständig – freigesetzt, die die Signale in den Netzwerken des Langzeitgedächtnisses feinabstimmen und in den Vorderhirnkanälen, in denen Vorhersagen gespeichert werden, herauf- oder herunterreguliert werden. Das ist das Prinzip ‚Lernen aus Erfahrung‘, das es uns ermöglicht, unser Weltmodell anzupassen und zu erweitern. Dem Gehirn geht es dabei zentral darum, Ungewissheit in der Erwartung zu minimieren.

Kurz gesagt: Kortikale Wahrnehmung besteht aus Apperzeption, prädiktiven Rückschlüssen oder Inferenzen. Laut Solms trifft die eigentliche ‚Entscheidung‘ über eine bestimmte Handlung dann das Mittelhirn aufgrund des Feedbacks aus den affektiven Schaltkreisen zusammen mit den sensomotorischen Karten, die uns über den ‚Stand der Dinge‘ in der Umwelt informieren, sowie dem evaluierten Feedback aus den Gedächtnissystemen des Vorderhirns. „Das fühlende Subjekt wird im wahrsten Sinne des Wortes durch den Affekt konstituiert“ (S. 277). Und da Emotionen absolut an jedem Denkvorgang beteiligt sind, ist es für Solms der eigentliche Sitz des Bewusstseins, weil wir nur ‚sind‘, wenn wir fühlen.

Man kann sagen, dass das Gehirn im Grunde ständig bemüht ist, seinen Arousal-Zustand niedrig zu halten. Solms erklärt das mit dem Prinzip der Homöostase, also dem Gleichgewicht bzw. der Stabilität der Verhältnisse von physiologischen Körperfunktionen wie Körpertemperatur, Blutdruck etc. Es gelte auch für emotionale Bedürfnisse, so Solms, die nicht „weniger biologisch seien als die körperlichen“ (S. 143). Im überlebenswichtigen Normbereich der Emotionen zu bleiben, koste ebenfalls Arbeit. Je geringer die Entropie, also Unordnung in einem Teilchensystem, sei, desto wünschenswerter sei das für den Organismus. Da aber viele Informationen und ein höheres Arousal große Unsicherheit enthielten, sei der wünschenswerte Zustand der, möglichst wenig Informationen verarbeiten zu müssen und damit Unsicherheit zu minimieren. Eine Möglichkeit, dies zu tun, ist, das Weltmodell laufend zu verbessern, um immer besser Vorhersagen zu generieren. „Im buchstäblichen Sinne berechnen Hirnschaltkreise apriorische Wahrscheinlichkeitsverteilung und senden dann in einem unaufhörlichen Bemühen, einkommende Signale zu schwächen, prädiktive Botschaften an sensorische Neuronen; Wahrnehmung impliziert im wörtlichen Sinne Vergleiche zwischen den vorhergesagten und den tatsächlichen Verteilungen, die dann zu Berechnungen der Aposteriori-Wahrscheinlichkeiten führen. Die daraus resultierenden Inferenzen ist das, was Wahrnehmung wirklich ist“ (S. 164, Hervorhebung im Original). Das bedeutet außerdem, dass das Gehirn lernt, um dann immer bessere Vorhersagen aus dem Erlernten generieren zu können. Was wir sehen, ist die für uns in diesem Moment „beste Einschätzung“ (S. 172) dessen, was wir aus der Welt in diesem Moment erfahren. Der eigentliche Sinn und Zweck von Wahrnehmung ist es damit, Aktion, also Handlung zu steuern. Die biologische Funktion von Bewusstsein ist demnach die Möglichkeit, uns durch willkürliches Verhalten durch „Probleme des Lebens hindurchzufühlen“ (S. 178), und dies erklärt, so Solms, warum „Arousal mit Gefühlen und bewussten Wahrnehmungen von Dingen einhergeht“ (ebd., Hervorhebung im Original). Bewusstsein ist also ein System, das agieren kann, um Sensationen zu verändern, so dass sie den Erwartungen entsprechen. Es kann außerdem seine Repräsentationen, also seine Wahrnehmung (alles, was wir wahrnehmen ist ein Rückschluss) von der Welt verändern, um bessere Vorhersagen zu generieren und schließlich die Präzision adjustieren, um die Amplitude eingehender Vorhersagefehler optimaler anzupassen.

Obwohl Solms den Kortex nicht (mehr) als letztliche Entscheidungsinstanz und Sitz des Bewusstseins sieht, weist er ihm (weiterhin) eine zentrale Rolle und Funktion für Verarbeitungsprozesse zu. Kognitives Bewusstsein ist für Solms vor allem „Erinnerungskonsolidierung“ (S. 204). Affekte stellen Anforderungen an die Psyche und die Kognition nimmt sich dieser an. Sobald diese erfolgt ist, kehrt das Gehirn in seinen automatischen Modus, also in den unterhalb der Schwelle des Bewusstseins zurück. Kognitive Arbeit verlangsamt demnach handelnde Prozesse und verzögert sie. Dies geschieht durch das sogenannte Arbeitsgedächtnis, das ein „In-Erinnerung-Behalten von Gefühlen“, einen „stabilisierter, in kognitive Arbeit transformierter Affekt“ (S. 204) ermöglicht. Denn für Solms ist ein Affekt gleichbedeutend mit Arbeitsanforderung, die an die Psyche gerichtet wird und bewusste Kognition ist ebendiese Arbeit selbst. Die Funktion des Kortex ist der Stabilisierungsprozess. Bewusste Kognition taucht auf, wenn automatisches Verhalten Fehler produziert, ist aber nach Solms für das Gehirn eigentlich nicht erstrebenswert, da der Idealzustand einer ist, in dem alle Bedürfnisse automatisch erfüllt werden und in dem es keinerlei Unsicherheit gibt. (Dieser Zustand wird aber allein durch den beinah ständig vorhandenen Seeking-Trieb verhindert.) Das Ziel des Lernens aus Erfahrung bestehe daher darin, möglichst viele Langzeiterinnerungen aus dem deklarativen (bewusstseinsfähig) in den nicht-deklarativen (nicht bewusstseinsfähig) Zustand zu versetzen. Denn Langzeiterinnerungen werden ebenfalls erst instabil, wenn sie sich in einem aktivierten Zustand befinden und werden deshalb aktualisiert und dann rekonsolidiert. Nicht-deklarative Erinnerung sei somit die „zuverlässigste Form der Erinnerung“ (S. 209). Das hängt damit zusammen, dass das Langzeitgedächtnis – anders als das Kurzzeitgedächtnis – von der Synthese neuer Proteine abhängt. „Diese wird nach umfangreicher und wiederholter synaptischer Transmission getriggert, auf die wiederum das retikuläre Aktivierungssystem – d. h. das Arousal – modulierend einwirkt“ (S. 207). Eine durch Arousal aktivierte Erinnerung ist aber keine Erinnerung mehr, sondern „befindet sich im Zustand der Unsicherheit“ (S. 207). Nicht-deklarative Erinnerungen (als subkortikale Erinnerungen) erzeugen prozedurale Reaktionen, während deklarative Erinnerungen (als kortikale Erinnerungen) Bilder generieren. Letztlich, so Solms, laufe kognitives Bewusstsein darauf hinaus, kortikale Erinnerungsspuren zu destabilisieren. Da diese Labilität ein Produkt des Arousals sei, gelange er immer wieder zu der Erkenntnis, dass Bewusstsein in seiner Gesamtheit aus dem Hirnstamm hervorgehe. Für Solms bedeutet das auch, „dass Wahrnehmung sich nicht grundlegend von Vorstellung unterscheidet: Unter dem subjektiven Blickwinkel betrachtet, besteht zwischen den Welten, die Sie in Ihren Träumen erleben, und der Welt da draußen vor ihrem Fenster nur ein ganz kleiner Unterschied. Ihr Gehirn kann auf Anforderung phantastische Realitäten erschaffen“ (S. 211).

Dafür sorgt der sogenannte Default Modus, eine Art Ruhezustand des Gehirns, der auf Aktivität im Vorderhirn beruht, „die in Abwesenheit spezifischer externer Stimuli stattfindet“ (S. 212). Das Gehirn löst dann keine Aufgaben, es tagträumt und macht Pläne für die Zukunft. Solms Ausführungen zu diesem Default Modus Network (DMN) im Gehirn sind hochgradig relevant für Literaturwissenschaftler:innen. Fiktionales Denken geschieht, so kann man durch Aufnahmen im MRT etwa nachweisen, in diesem Netzwerk. Während viele andere Hirnregionen ausgeschaltet sind, werden der präfrontale Cortex, der Precuneus, Teile des Gyrus cinguli, des Lotus parietalis superior und des Hippocampus dann aktiv. Der Hippocampus ist also ebenso an Vorstellungen der Zukunft wie an Erinnerungen an die Vergangenheit beteiligt.

Ebenso wichtig sind für Literaturwissenschaftler:innen Solms Ausführungen zur Funktion der Sprache. Sie ist ohne Abstraktion nicht denkbar, als Top-down-Verstärker der Wahrnehmung ermöglicht sie auch ansonsten unsichtbare Bilder ins Bewusstsein zu treiben. Als Abstraktion hat sie auch eine größere Reichweite als Bilder. „Wörter haben die Kraft, ganze semantische Kategorien zu ‚boosten‘“ (S. 215). Sprache, so vermutet Solms, sei überwiegend aus dem Spiel-Trieb (zu dem der Kortex mehr beitrage als zu all den übrigen Basisemotionen, so dass er durchaus ein Vorläufer des Denkens im Allgemeinen sein könne) hervorgegangen, da sie Wechselseitigkeit und die Entwicklung von Empathie fördere.

Die Aufgabe des Gehirns ist also Informationsverarbeitung und die des Bewusstseins ist es, Entropiezustände zu minimieren, so die Erklärung Solms. Die fundamentale Form des Bewusstseins ist jedoch, das ist die Kernbotschaft seines Buches, affektiv, nicht kognitiv. „Die primäre Funktion des Bewusstseins besteht nicht darin, wahrzunehmen oder zu erinnern oder zu verstehen, sondern zu fühlen“ (S. 243, Hervorhebung im Original). Gefühle sind demnach die Grundform des Bewusstseins. Und da das Lösen von Aufgaben für das Gehirn so anstrengend ist, kann man sich als Literaturwissenschaftler:in darin bestätigt sehen, dass der Idealzustand für das Gehirn eigentlich der des fantastischen Denkens im Default Modus ist. Oder auch: Der Standardmodus des Denkens ist fiktionales Denken.

Wenn man aktuell über Bewusstsein spricht, dann ist damit fast unweigerlich auch die Frage nach dem ‚Bewusstsein‘ von KIs verbunden und die Frage, inwieweit diese Bewusstsein und Emotionen werden entwickeln können. Solms zumindest ist sich nicht nur sicher, dass dies der Fall sein kann und wird, sondern skizziert auch seinen eigenen, bereits relativ konkreten (nicht-kommerziell finanzierten) Forschungsplan, fühlende KIs entstehen zu lassen. Bewusstsein setze nicht zwangsläufig die Existenz einer Struktur voraus, die wie das PAG aussehe. Es sei lediglich notwendig, dass sie wie diese funktioniere. Solms hält es für möglich, „künstlich eine bewusste Psyche zu produzieren“ (S. 257), die dann gleichzeitig der Beweis für die spezifische Form der Informationsverarbeitung des Gehirns ist, die Solms in seinem Buch skizziert. Solms Versuch unterscheidet sich dabei von den meisten bisherigen KI-Studien in der Hinsicht, dass er nicht versucht, Intelligenz, sondern Bewusstsein zu erschaffen, also ein selbstbestätigendes System, dass „keinen anderen objektiven Zweck hat als den, das Mittel zu diesem Zweck zu bleiben. Mit anderen Worten: Wir werden versuchen, etwas zu kreieren, das kein anderes Ziel und keinen anderen Zweck hat, als am Leben zu bleiben“ (S. 258, Hervorhebung im Original). Die vielfältigen ethischen und moralischen Implikationen und Probleme sind ihm dabei sehr bewusst. Neben den Gefahren, die für den Menschen von einer Maschine ausgehen könnte, die intelligenter ist als wir und über Bewusstsein verfügt, stellen sich auch im Hinblick auf die bewusste und fühlende, also empfindungsfähige KI Fragen nach dem Recht auf Leben und dem der Unantastbarkeit von Würde etwa. Dennoch hält Solms es für notwendig, den Nachweis zu wagen und so seine Hypothesen zu falsifizieren. „Wenn es machbar ist, wird es gemacht werden“ (S. 269, Hervorhebung im Original), ist eines seiner Argumente dafür. Er müsse daher versuchen, der Welle voraus zu sein und die „potenziell schädlichen Konsequenzen, wo immer möglich, zu verhindern“ (S. 271). Dazu gehört für Solms zum einen „die Patentierung des neuralen Bewusstseinskorrelats“ (S. 271) und zum anderen – trotz aller ethischen Implikationen –, die Maschine nach (erfolgreichem) Projektende abzuschalten und die Batterie zu entfernen (in Einklang mit der „Termination Obligation-Klausel“ der Universal Guidelines für Artificial Intelligence von 2018). Zügiges Handeln sei erforderlich, schließt Solms, bevor andere ihnen zuvorkämen.

Das Werk von Mark Solms ist für Leser:innen ohne spezifische Fachkenntnisse sicherlich keine ganz einfache oder eingängige Lektüre. Solms bemüht sich jedoch – sehr erfolgreich – durch ausführliche Erklärungen, Wiederholungen und anschauliche Beispiele, die Materie auch einem breiteren Leserkreis zugänglich und verständlich zu machen. Es lohnt sich daher sehr, sich etwas intensiver mit den Inhalten seines Buchs und dem Befund, dass Bewusstsein an Emotionen geknüpft ist, zu beschäftigen. Solms Ausführungen und Erkenntnisse zu seiner neuen Theorie des Bewusstseins und des subjektiven Selbst sind nämlich längst nicht nur etwa für Neurowissenschaftler:innen, Mediziner:innen, Psychoanalytiker:innen oder Psycholog:innen relevant. Wie eingangs schon dargelegt, können gerade auch Literaturwissenschaftler:innen, aber ebenso alle am Wesen des Menschen Interessierten, ganz erheblich von den Befunden seiner bahnbrechenden Forschungen profitieren. Zumal die Frage, was ein denkendes und fühlendes, also ein bewusstes Wesen eigentlich ausmacht, in einer Gegenwart und Zukunft mit Künstlichen Intelligenzen noch erheblich relevanter sein dürfte.