Fake und Fiktion
Über die Erfindung von Wahrheit

Darüber, was ein ‚Fake‘ ist, welchen Schaden er gesellschaftlich und politisch anrichten und wie man ihn erkennen kann, ist in den letzten Jahren viel gesprochen und geschrieben worden. Thomas Strässle widmet sich dem Thema nun in seinem kurzen Essay-Band „Fake und Fiktion. Über die Erfindung von Wahrheit“ aus literaturwissenschaftlicher Sicht. Denn die Literaturwissenschaft habe, so Strässle, die längste Erfahrung damit, zu beschreiben, wie man etwas glaubhaft erzählt, das nicht wahr ist.

In elf kurzen Kapiteln erörtert Strässle seine Überlegungen zur Verbindung von Fake und Fiktion und zu Fiktionalität und Faktualität. Das Problem bei der Definition des Fakes beginnt dabei für Strässle schon mit dem Wort an sich. So geht er verschiedenen möglichen Ursprüngen des Wortes nach, ebenso wie unterschiedlichen semantischen, moralischen und kulturellen Differenzierungen des englischen und deutschen Begriffs.

Jeder Fake sei gewissermaßen eine „Untergattung der Fiktion“ (S. 12), aber im Unterschied zum Fake würden viele Formen der Fiktion keinen Anspruch darauf erheben, als faktisch zu gelten, so seine grundsätzliche Feststellung. Entscheidend ist für ihn also die Erkenntnis, dass nicht jede Fiktion auch automatisch ein Fake ist. Beide teilten jedoch die entscheidende Eigenschaft, dass sie ‚bewusstfalsche‘ Phänomene seien, die ihre Wahrheit und Interessen durchsetzen wollten.

Ein Denken in Oppositionen ‚Fake vs. Fakt‘ sei in der gegenwärtigen Debatte über den Fake bestimmend, konstatiert Strässle weiter. Dieser Gegensatz sei nicht grundsätzlich falsch, aber eben nur die halbe Wahrheit. Denn jede Fiktion – auch der Fake – bestehe aus „einer Verkettung von Fakten“ (S. 29), die jedoch einen sehr unterschiedlichen Status haben könnten. In einen literarischen und fiktionalen Text könnten unterschiedliche viele verschiedene „Wirklichkeitsfetzen“ (S. 29) als Referenzpunkte – etwa zu Personen, Orte und/oder Ereignisse – hineinmontiert werden. „Worin sich genau eine faktuale von einer fiktionalen Erzählung unterscheidet, ist bis heute letztlich unklar. Es ist nicht einmal erwiesen, inwieweit diese Unterscheidung überhaupt zulässig ist oder, noch radikaler, ob es diesen Unterschied überhaupt gibt“ (S. 30), stellt Strässle fest. Als faktuale Erzählung könne jedoch, so seine Definition, ein Text gelten, der auf eine konkrete außersprachliche Wirklichkeit referiere und den Anspruch dabei erhebe, keine Erfindung zu sein. Eine fiktionale Erzählung, die sich sowohl durch – mehr oder weniger stark oder schwach ausgeprägte – paratextuelle als auch textinterne Fiktionalitätssignale auszeichne, verzichte auf solche Ansprüche und sei daher weder wahr noch falsch. Alles entscheide sich am konkreten Beispiel, betont Strässle.

Dass Literatur den Leser durchaus auch immer wieder in die Irre führen und ‚täuschen‘ möchte, zeigt er unter anderem anhand eines Buches, das ein „Märchen vom Märchen“ (S. 73) erzählt. Hans Traxler schildert in „Die Wahrheit über Hänsel und Gretel“ vermeintlich dokumentarisch, wie der Studienrat Georg Ossegg das Märchen „Hänsel und Gretel“ als einen „Tatsachenbericht“ (S. 74) gelesen und damit „Märchenarchäologie“ (S. 73) betrieben hat. Ossegg, so beschreibt Traxler in seinem Buch, suchte das Märchen der Brüder Grimm akribisch auf Indizien ab, wo und wann die geschilderten Ereignisse genau stattgefunden haben könnten und machte sich in einem Wald im Spessart auf die Suche nach Spuren – die er auch fand: „Fundamente von vier Backöfen“ (S. 77) , in einem davon die Überreste eines weiblichen Skeletts. Dazu „Backgeräte verschiedenster Art“ (S. 78) und ein handgeschriebenes Lebkuchenrezept. Zusammen mit vielen anderen ‚Beweisstücken‘, etwa Prozessdokumenten gegen die der Hexerei angeklagten Katharina Schraderin, konnte Ossegg den Fall nun „lückenlos rekonstruieren und dokumentieren“ (S. 78) – und das Märchen als einen Kriminalfall ganz neu erzählen. Schraderin sei vom Hofbäcker zu Nürnberg denunziert worden, da er sie um ihr Lebkuchenrezept beneidet habe, dieser habe den Prozess jedoch verloren. Daraufhin habe er sich mit seiner Schwester zum Haus im Wald begeben, die Bewohnerin erwürgt und im Backofen verbrannt. Aufgrund der großen Resonanz und Aufregung um das Werk – viele Leser waren verunsichert oder hielten die Geschichte sogar für plausibel und wahr – musste Traxler schließlich erklären, dass „seine Dokumentation von A bis Z erfunden“ (S. 80) sei, auch Georg Ossegg gebe es nicht.

Strässle verweist hier auf eine grundlegende Strategie der Fiktion, erzähltechnisch das Verhältnis von Fakt und Fiktion so umstülpen, dass nicht mehr entscheidbar ist, was auf welche Seite gehört. Dafür müsse man es entweder mit den Fakten so übertreiben, bis sie wie eine Fiktion anmuteten oder man müsse eine Fiktion plausibilisieren, bis sie als reine Faktizität erscheine, so Strässle. Glaubwürdigkeit spiele hier demnach eine größere Rolle als Wahrhaftigkeit, konstatiert er. Auch das Verwirrspiel um Quellen und Autorschaft besitze eine lange Tradition in der Literatur und sei fester Bestandteil „im Arsenal ihrer Faketionalisierungsstrategien“ (S. 67). Denn aus Autorschaft erwachse unzweifelhaft Autorität.

Wenn also schon die Unterscheidung ‚faktual‘ und ‚fiktional‘ oftmals schwierig sei, so sei es erst recht die von fiktionalen und ‚Fake‘-Texten. Letztere müssten vorerst, so Strässle, erzähltheoretisch noch als „Unidentified Narrative Objects“ (S. 39) gelten. Um hier mehr Klarheit zu schaffen, definiert er einige Kriterien, anhand derer sich „das Phänomen ‚Fake‘ als erzähltheoretisches Problem und die ‚Faketizität‘ beziehungsweise das ‚faketionale‘ Erzählen als narratologische Kategorien“ (S. 39) zumindest annäherungsweise konturieren lassen. Diese Kategorien betreffen etwa die Intentionalität – ein Fake bedürfe immer eines bestimmten Vorsatzes und einer Absicht, er wolle eine Wirkung erzielen – und das kalkulierte Zusammenspiel aus ‚Wissen‘ und ‚Nichtwissen‘. Zu den entscheidenden Faktoren zählt außerdem Plausibilität – wer die Menschen betrügen wolle, müsse Sachverhalte plausibel, also konsensfähig und konsistent machen – und Publizität, da der Fake die Öffentlichkeit suche und brauche, um Einfluss nehmen zu können. Suggestion, die zwischen Reflex und Reflexion angesiedelt und dann am wirkmächtigsten sei, wenn es ihr gelänge „eine schon im Bewusstsein vorhandene und eine neu hinzukommende Vorstellung so miteinander zu verbinden, dass die oder der Betreffende es gar nicht merkt“ (S. 46) ist für Strässle ein weiteres Kriterium, ebenso wie Identifikation – je mehr es ein Fake verstehe, emotional zu adressieren und zu involvieren, desto wirkungsvoller sei er. Zuletzt sei auch das Merging, das Vermischen und Verwischen von unterschiedlichen Wissens- und Informationsständen, eine beliebte Technik jeder Täuschung. Um einen Fake also zu erkennen, müsse man nach den Ansichten und Absichten derer forschen, die ihn in die Welt gesetzt haben. Der Fake lasse sich nicht nur auf die Faktenlage – also seine Oberfläche – hin überprüfen, „sondern auch hinsichtlich der Techniken und Strategien, die er verwendet“ (S. 87), ebenso wie auf die Echoräume befragen, „in denen er widerhallt“ (S. 87).

Was falsch sei, sei nicht notwendigerweise auch deswegen böse und könne sogar nützlich oder unentbehrlich sein, so Strässle in Anlehnung an den Philosophen Hans Vahinger. Im Hinblick auf Fiktionen bedeute das, dass sie Umwege oder „Durchgangspunkte des Denkens auf dem Weg zur Erkenntnis sind – auf dem indirekten Weg, der über die Falschheit führt“ (S.85). Die Debatte über den Fake sei gegenwärtig jedoch in erster Linie eine politische und moralische, die sich auf seine bewusst inszenierte manipulative Wirkung beziehe, die meist aus unlauteren Absichten erfolge. Die Literaturwissenschaft, so macht der ebenso kluge wie kurzweilige Essayband von Strässle deutlich, kann sowohl Definitionen dafür anbieten, was einen Fake ausmacht, als auch Techniken – leider nur näherungsweise –, wie man einen Fake erkennt und von literarischen Fiktionen unterscheidet.