Gesamtansicht Rezensionen

Ein altes Passbild, grobkörnig wirkend: Ein melancholisch wirkendes junges Gesicht, umrahmt von offenbar geflochtenen Haaren: Sofie Benz (1884-1911), Kunststudentin und Malerin, hat außer zwei Skizzen kein Werk hinterlassen (vieles ging verloren oder wurde zerstört), doch sind Spuren von ihr in der Literatur zu finden, vor allem als Geliebte des Würzburger Schriftstellers Leonhard Frank und des Psychoanalytikers Otto Gross, der einen verhängnisvollen Einfuß auf sie ausübte und für ihren frühen Tod verantwortlich ist. …

Die Nobelpreisträgerin Toni Morrison (die Baldwins Texte lektorierte, bevor sie selbst eine angesehene Schriftstellerin wurde; sie war mit dem Autor befreundet) erklärte einmal: „Du hast mir eine Sprache gegeben, in der ich wohnen kann.“ Das ist viel, und es ist nicht selbstverständlich. Beide wissen: Schwarz Sein in einer Welt der White Supremacy bedeutet eine Erniedrigung (ein immer noch aktuelles Thema; man denke nur an die Ermordung George Floyds durch einen Polizisten im Jahre 2021. Und als wäre es eine Nachricht von heute: Nachdem ein weißer Polizist einen Schwarzen erschossen hatte, kam es in Harlem 1943 zu Ausschreitungen), es bedeutet, in einer Gesellschaft leben zu müssen, die es „fertigbringt, Menschen von dem minderwertigen Status, den sie ihnen zugewiesen hat, auch noch zu überzeugen; …

Gerade für Personen, die dem religiösen Nonkonformismus zuzurechnen sind, die sich bewusst außerhalb der Normen und Grenzen der verfassen Kirche verorteten und diese hinterfragten, kam der Vernetzung eine besondere Bedeutung zu, um in Situationen, wie Guido Naschert, der Herausgeber des Bandes schreibt, „von Verhören, Amtsenthebung, Gefangennahmen bis hin zur Verurteilung zum Tode […] in besonderer Weise auf die Hilfe anderer“ (S. 253) zurückgreifen zu können. Dieses Bedürfnis schien Friedrich Breckling (1629–1711) mit seinen Auflistungen, die dem Wahrheitszeugenkontext zuzuordnen sind und von denen im vorliegenden Band zwei erstmals ediert vorliegen, zeitgenössisch bedienen zu wollen, …

Wenn die Editionen von Kosovels (1904-1926) schriftlichen Hinterlassenschaften sich als „windungsreich“, „noch immer nicht abgeschlossen“ (S. 173) erweisen, der Übersetzer in diesem Fall seine eigene Auswahl trifft, als seine besondere Komposition aufgrund der geistigen Intimkenntnis des Slowenen so vorzulegen wagt, darf er sich bei dieser eigens konstellierten, gefügten, zusammenfließenden Verwendung der Basistexte, der prinzipiellen Zustimmung ihres Urhebers sicher sein. …

„Die Zukunft, das sind wir“ (S. 355), so die Ratio der Autorin bei ihrer Ambition, „eine philosophische Theorie vor[zulegen], die auf einer sachgemäßen Sichtweise des Lebens der Tiere beruht und dem Recht kompetente Empfehlungen gibt“. (S. 12) Ihr Zugang wie Ausgang sind ihre Emotionen, nämlich „Staunen, Mitgefühl und Empörung“ (S. 25), wobei letztere sie als „Übergangszorn“, weil „ohne Vergeltungswünsche“ (S. 40) einführt: vergleichbar einem elterlichen Zorn, der für die Kinder anlässlich ihres Fehlverhaltens Abhilfe zu schaffen sucht. Und während spürbar Sensibilität die gesamte Aufbereitung grundiert, bestimmen vorwiegend Appelle an die Vernunft das Gesamtwerk. …

Der Bericht beinhaltet den Spezialfall einer Art staatlichen Einbürgerungsoffensive, praktiziert an dazu erklärten Spezialfällen von Menschen (noch vor der „Spezialoperation“ Russlands zur Annexion ukrainischen Staatsgebiets ab Februar 2022). Der in seiner Geburtsstadt Donezk (von 1924‒1961 Stalino) auf Veranlassung ukrainisch-prorussischer wie russischer Geheimdienste 969 Tage (2017‒19) inhaftierte Autor, wurde mittels Austausches freigelassen. Was er, als Journalist, hierauf zu schreiben vermag, sollte sich also herumsprechen. Was macht die hier den Menschen bereiteten Qualen so besonders? Dass man sich in den Zellen mit Türen zudeckt (vgl. S. 94) wohl nicht, eher schon, um, als dressierter Reflex, sich durch Vergleiche mit (noch) Schrecklich(er)em „Erleichterung“ zu verschaffen, die Atmosphäre als Insass:innen eines deutschen KZ’s simuliert (S. 186/187). …

Das Buch der israelischen Journalistin und Theaterregisseurin Lee Yaron über den 7. Oktober ist weit mehr als ein „Protokoll eines Anschlags“, wie es im Untertitel heißt. Sicher ist es auch eine Chronik, die Yaron auf Grundlage von Gesprächen mit Überlebenden und anderen sowie von Telefonprotokollen, Kurznachrichten und vielem anderen mehr, erstellt hat. Es ist aber auch eine Art Yitzkor-Buch, das Erinnern und Gedenken in sich vereint. Es ist, wie Yaron schreibt, „eine Abwehr gegen Verzerrung, eine Abwehr gegen das Vergessen“ (S. 23) – beides setzte schon am 7. Oktober ein und setzt sich bis heute fort. Vielfach wurde gar nicht erst richtig hingesehen. …

„Ich wollte dieses Buch nicht schreiben“ (S. 389), gesteht der Journalist und Autor Amir Tibon am Ende des Buches. Dass er es dennoch getan hat, ist ein Glücksfall. Amir Tibon gehört mit seiner Frau und ihren zwei Kindern zu den Überlebenden des 7. Oktober im Kibbuz Nahal Oz, einem der ersten Orte, die die Hamas in den frühen Morgenstunden attackiert hat.
Der Kibbuz grenzt unmittelbar an den Gazastreifen, daher greift dort der Schutzschirm der israelischen Luftabwehr, des sogenannten Iron Dome, nicht. Die Bewohnerinnen und Bewohner des fast 500 Menschen zählenden Kibbuzes waren den Beschuss mit Mörsergranaten von Zeit zu Zeit gewöhnt. So schien es auch am 7. Oktober früh morgens nichts Ungewöhnliches zu sein als das vertraute Geräusch einer heranfliegenden Mörsergranate das Paar weckte. …

„Scheinbar haben wir den Traum (oder Albtraum) der KI endlich verwirklicht“ (S. 23), hebt die Autorin an; ermöglicht sie es doch, „an einer Kommunikation teilzunehmen, ohne mit einem menschlichen Wesen zu kommunizieren“, dabei „Informationen“ zu erhalten, an die „niemand […] bisher […] gedacht [hatte]“ (S. 88). In Espositos, hier aus einem Vortrag hervorgegangenen Theoriepräsentation wird der Begriff KI durch den der „‘Künstliche[n] Kommunikation‘“ (S. 31) ersetzt; wobei der Titel ihrer früheren Darstellung: „Artificial Communication: How Algorithms Produce Social Intelligence” (Cambridge 2022) verdeutlicht, worauf sie eigentlich hinauswill. …

Der diesjährige Almanach der Leo Baeck Institute widmet sich, wie könnte es auch anders sein, dem 7. Oktober, dem noch namenlosen Massenmord von Hamas-Terroristen und Zivilisten aus dem Gazastreifen an Israelis in angrenzenden Kibbuzim, Ortschaften, in Stützpunkten der Israelischen Armee und auf dem Nova-Festival in der Wüste. Zahlreiche Autorinnen und Autoren aus Israel widmen sich diesem einschneidenden Ereignis aus recht unterschiedlichen Perspektiven, die jedoch eins eint: In allen Beiträgen wird deutlich, dass die Morde des 7. Oktober – ihre Systematik, ihre Dimension und die Bestialität ihrer Durchführung – eine Wasserscheide sind. …