Diesem Band liegt Eriks Richters geringfügig überarbeitete Dissertation zu Grunde, welche im Wintersemester 2021/22 an der Universität Magdeburg zur Begutachtung eingereicht wurde. Diese Forschungsleistung Richters dient zwei Zielen zugleich: Zum einen sollen landesgeschichtliche Forschungslücken geschlossen werden; zum anderen will sich die Studie in einen breiteren Forschungsdiskurs zur Herrschaft von Frauen in der Frühen Neuzeit und zu Chancen und Herausforderungen von weiblich geführten geistlichen Institutionen in der Reformationszeit einschreiben. Der Untersuchungszeitraum ist beinahe mit dem Abbatiat der Fürstäbtissin Anna II. aus dem Grafengeschlecht Stolberg-Wernigerode (reg. 1515–1574) deckungsgleich. Die Studie Richters will bewusst nicht als Biographie verstanden werden, rückt allerdings Äbtissin Anna II. in ihren Beziehungsgefügen und ihren Konfliktkonstellationen in den Fokus. Die Mikroanalyse dieses reichsstiftischen Kleinstterritoriums (S. 38) mit seinen vielfachen, nach außen verweisenden Verflechtungen erfolgt vor dem Hintergrund der großen reformatorischen Entwicklungen vom Thesenanschlag bis zum Konkordienbuch und der expansiven Politik der Wettiner im weiteren Raum zwischen Elbe und Harz. Für diese Studie greift Richter auf prosopographisches Handwerkszeug und kultur- und geschlechtergeschichtliche Fragestellungen zurück. Die Arbeit fußt auf einem umfangreichen nicht-edierten, archivalischen Quellenkorpus; anhand dessen gelingen Richter detailreiche und neue Einblicke in die Geschichte des Quedlinburger Reichsstifts im Reformationszeitalter.
Die überwiegend chronologisch gegliederten Kapitel (Kap. 2, 3, 4, 9) ummanteln einen Block an analytischen Kapiteln (Kap. 5, 6, 7, 8). Diese Struktur bringt einiges an Vorgriffen und Rückgriffen sowie an Wiederholungen mit sich. Demgegenüber ermöglicht dieses Vorgehen Richter einige Fragekomplexe mit größerer Präzision zu untersuchen: Das Ringen der Äbtissin um eine eigene reformatorische Deutungshoheit samt Kirchenordnung, das gleichzeitige Fortbestehen der auf die ottonischen Stifterpersönlichkeiten ausgerichteten Memorialpraxis, die situativen Anpassungsleistungen bei der Gestaltung der Titulatur von Reichsstift und Äbtissin, die Entwicklung der reichsfürstlichen Repräsentation und das Streben nach einer Festigung der eigenen finanziell kostspieligen Reichsstandschaft waren allesamt letztlich Instrumente, um die Ambitionen der albertinischen Erbschutzvögte zurückzuweisen. Denn manche dieser Mittel waren dazu geeignet, Kaiser- und Reichsnähe zielgerichtet zu konstruieren; andere akzentuierten die eigene landesherrliche Kompetenz. Der kürzere reformatorische Prozess wird von Richter in den längeren und älteren Vorgang der wettinischen Dynastierungsbemühungen eingebettet. Hierbei gelang es den Gräfinnen und Grafen von Stolberg im mittleren Drittel des 16. Jahrhunderts, das Reichsstift zum Vehikel einer eigenen stolbergischen Dynastiepolitik zu machen, wie Richter überzeugend herausarbeitet (v.a. S. 287–298). Die Nachfolgerin Annas II. hingegen, Koadjutorin und Äbtissin Elisabeth II. aus dem Grafenhaus Regenstein-Blankenburg (reg. 1574–1584), sah sich Mitte der 1570er Jahre dem planvollen Agieren Kurfürst Augusts gegenüber, welches in eine de facto-Mediatisierung des Reichsstifts mündete (Kap. 9.6).
Die Gliederung ist angesichts der gewaltigen Textmenge stellenweise relativ grobmaschig: So bestehen Unterkapitel mit einem Seitenumfang von etwa 50 Seiten ohne weitere abgesetzte Untergliederungen (bspw. Kap. 6.3 oder 9.5). Teile derselben umfangreichen Kapitel wiederum beinhalten etliche Seiten rekapitulierender Zusammenfassungen. Diese wiederholungsintensiven Abschnitte sind ebenfalls nicht abgesetzt. Auch bei sehr klar strukturierten Kapiteln (wie Kap. 8.2 und 8.3), welche den dem Reichsstift zugehörigen Klöstern und Stiften gewidmet sind, bestehen keine eigenen Unterkapitel zu den einzelnen geistlichen Institutionen, obschon sich diese weitere Gliederungsebene hier anböte. Insgesamt erschwert die Gliederung der Textmenge die Handhabung des Werks. Das Fehlen eines Personen- und Ortsregisters erschwert die Orientierung für den Nutzer bzw. die Nutzerin zusätzlich. Sechs Abbildungen, eine genealogische Tafel zum Stolberger Verwandtschaftsnetz und eine graphische Veranschaulichung der Politik Annas II. im Spannungsgefüge zwischen Kaiser und Albertinern runden den Band ab. Erik Richters quellengesättigter und detailreicher Studie ist eine interessierte Leserschaft zu wünschen.


