Im Fluge ließe der Haupttitel, als Frage genommen, die Angabe eines einstelligen Werts von Billiarden (US-Dollar) zu. Nachdem aber der Zusatztitel die fachwissenschaftliche Prätention umreißt, geht der Autor ziemlich immersiv zu Werke. Lenger führt dabei die mannigfaltigen Varianten wirtschafsunternehmerischer Aktivitäten zur Etablierung von ‚Märkten‘, die Auf-, Um- und Abwendungen dabei, vor, und dies alles sowohl längs der Geschichte sowie phasenverschoben, kreuz und quer die Kontinente, ausgehend von und im Verbund mit den jeweiligen Volkswirtschaften der Ausgangs- und Zielländer.
Das Ergebnis jahrelanger Projektarbeit, mit zahlreicher personeller Beteiligung, unter Verwendung von Forschungsliteratur auf neuestem Stand, liegt nun vor: die Bereiche des Kapitalismus (Handel, Industrie, Finanzmarkt, digital) werden in ihrer Signifikanz sowie den sie signifizierenden Wandlungen seit Ende des 15. Jahrhunderts in fünf Kapiteln nachverfolgt; mit acht geographischen Karten. Relevante Theorie wird zwar diskutiert, sonst aber verfährt der Autor mit seinem Schwerpunkt, der konkreten Praxis, völlig eigenständig. Dazu gehört, dass seine kapitalistischen Ereignisabfolgen in eigens bemessenen Phasen (vgl. S. 71) geboten werden, schmale Zeitsektoren, innerhalb derer Entwicklungen einsetzen, dann abebben, somit anderen, neuen Konfigurationen Raum geben. Stets will er „systematisch danach fragen, wer wo, wofür und mit welchen Erwartungen wieviel Kapital investiert“ (S. 520) hat.
Die ‚Erwartungen‘ als Schlüsselfaktor des Kapitalismus genommen, meinen hier jedoch nicht nur „die Erwartung zukünftiger Erträge“, sondern „die Prognose zukünftiger Erwartungen“ (S. 249). Erheblich wird diese Unterscheidung dann, wenn sich ein „Raum für Profite“ erst aus der „Differenz zwischen Risiko und Unsicherheit“ ergibt. Während das Risiko „der Berechnung zugänglich“ (S. 30) ist, meint Unsicherheit eine Wägbarkeit mangels jeden Horizonts, absolut Kontingentes. Bei den Umsetzungen von Investitionsentscheidungen von Märkten und Mächten, die der Autor hier verfolgt, spielt die genannte ‚Unsicherheit‘, die eigentlich eine Unvorhersehbarkeit, mehr oder minder mit. Deshalb präferiert Lenger in seiner Analyse die strukturellen gegenüber konjunkturellen Entwicklungen (vgl. S. 25), erklärt sich seine Präsentation des Kapitalismus als eine mit phasenhaften Schüben, allerlei Sprüngen und Verwerfungen.
Sein Konzept vermeidet auffällig „moralisierende Aufladung“ (S. 30), denn grundsätzlich moralisierbar ist seine „Leitfrage“ ohnehin, nämlich „[w]ie die Dynamik des Kapitalismus asymmetrische Verhältnisse in der Welt hervorgetrieben hat“ (S. 13). So kann man sich seine sehr versachlichte Wortwahl, wie etwa, dass man sich bei „der wirklichen Abschaffung der Sklaverei sehr zurückhielt“ (S. 308), erklären. Nur vereinzelt blitzt seine Empörung dann doch auf wie in jenem Resümee: eine „Mélange aus Rassismus, Zynismus und Profitgier“ (S. 311).
Ausdrücklich „nicht mitbehandelt“ werden die „sozialistischen Planwirtschaften“ (S. 394), desgleichen sind „nicht Gegenstand der Betrachtung oder gar der Bewertung“ die „einzelstaatlichen Politik[en]“ (S. 443). Außerdem „verbietet“ sich fachlich für Lenger eine Zentralstellung der Arbeiterschaft in seinem thematischen Verfolg von „konkreten Kapitalisierungen im Rahmen verschiedener Investitionsregime“ (S. 25), und zwar mangels deren ‚vorsätzlichen‘, gar planerischen Absichten bezüglich der Konsequenzen für erstere.
Die faktendichte Aufbereitung erlaubt, je nach individuellem Lektüremodus, die Verdeutlichung markanter Aspekte: zum Beispiel, dass die kapitalsichernde Verpfändung die Sklaven zu ‚Humanomobillien‘ stufte (vgl. S. 129); der über China verfügte internationale „Finanzimperialismus“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. S. 322) eine kaum vergessliche ‚Lektion‘ für die Folgegenerationen des Großreichs bedeutet(e).
Kursierende Versionen können sich ändern, etwa dahin gehend, dass lange Zeit „die Vereinigten [niederländischen; P.R.K.] Provinzen die stärkste europäische Macht“ (S. 70) in Südostasien darstellte oder, dass die spätmittelalterlichen Stadtrepubliken Oberitaliens „ein vergleichsweise wenig bedeutendes Anhängsel einer um den Indischen Ozean konzentrierten Ökonomie war“ (S. 38). Notwendige Abgrenzungen zwischen ‚Kapitalismus‘-‚Industrialisierung‘- ‚Industrieller Revolution‘ werden gezogen.
Symptomatiken der jüngsten Entwicklung der Kapitalgeschichte sind eine Steigerung von ‚Unsicherheit‘, Unberechenbarkeit sowie Ressourcennöte. Und aufgelistet wird, was aufgrund dessen ins Kalkül genommen wird: (Gentechnischer) Neo-Extraktivismus; Re-Versionen, in Form von ‚Reprimarisierung‘ (Landwirtschaft); frühneuzeitliche Formen eines ‚privatisierten Merkantilismus‘‘‘ (Handelsprimat).
Kapitalisierungen sehen sich unter dem Vorzeichen gravierender Unbeeinflussbarkeit durch Verselbständigungsphänomene: etwa, weil die „Wertschöpfungsketten“ mit der „ihnen inhärenten Hierarchisierung“ sich als unwägbar ‚flexibel‘ (S. 467) entwickeln; der klassische Begriff vom ‚Markt‘ modifiziert werden muss, da „<die Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus […] Märkte sind >“ (S. 492). – Die Begleiterscheinung ist, dass eine immer größere Zahl von Menschen für Fehlkalkulationen anderer ‚haftet‘, im Ergebnis „mit der Sozialisierung [Vergemeinschaftung; P.R.K.] der aus Extremrisiken resultierenden Verluste“ (S. 510).
Lenger referiert zum Schluss ein einen klamm machendes ‚politisches Trilemma‘: von „drei Optionen: souveräner Nationalstaat, Hyperglobalisierung, demokratische Politik“, seien lediglich zwei miteinander vereinbar (S. 515). Wer, wie und wann zu einem Überhang an Belastung durch Einsatz von Kapital „in den zurückliegenden Jahrhunderten“, der nunmehr genannten „Biosphäre“ (S. 525) beigetragen hat und nach wie vor beiträgt, will Lenger, nicht zuletzt als Grundlage für eine ausgleichsorientierte Kompromissdebatte, dargelegt haben.