Otto Küsel (1909-1984) gehörte zu den Menschen, die in der Zeit größter Menschenverachtung Übermenschliches zu leisten vermochten, indem sie ihr Menschlichkeit entgegenstellten. Sebastian Christ – gegenwärtig Pressesprecher für Digitalisierung und Verwaltungsmodernisierung in der Senatskanzlei Berlin – hat dieses Bemühen in einer biografischen Darstellung zusammengestellt: ein mühevolles Unterfangen, da von Küsel nur wenige Selbstzeugnisse überliefert sind, umso mehr jedoch findet sich stattdessen in Akten der Konzentrationslager, in denen er inhaftiert war, in den Unterlagen des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses von 1964 und in den Erinnerungen vor allem polnischer Inhaftierter des KZs Auschwitz. In eben jenem Vernichtungslager war Otto Küsel als Häftling Nr. 2 geführt. Zu seinen Aufgaben dort gehörte es, die Einsätze der Arbeitskommandos zu koordinieren. Immer wieder gelang es ihm dabei, die von den Nationalsozialisten praktizierte Vernichtung polnischer Häftlinge durch Arbeit zu untergraben: Er leistete Kranken Hilfe, denen er leichte Arbeit zuwies, gab den Inhaftierten Ratschläge, wie sie sich im Lager unauffällig verhalten sollten oder ordnete Akademikern oder Offizieren Handwerkeraufgaben zu, damit sie nicht als polnische Intellektuelle oder Militärs erkannt und ermordet wurden.
Küsels Aktivitäten – so stellt es das Buch dar, und die erreichbaren Quellen lassen diesen Schluss auch zu – waren durch eine humanistische Anschauung initiiert, die der Rassenideologie der Nationalsozialisten konträr entgegenstand. Wie sich Küsels menschliche Haltung begründete, kann das Buch nicht beantworten. Anstelle dessen arbeitet Christ heraus, wie der Kleinkriminelle – er hatte bereits einige Jahre in Gefängnissen verbracht, bevor er in den Lagern der Nationalsozialisten inhaftiert wurde – die Funktionsmechanismen in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern zu lesen verstand und ihnen durch seine Tätigkeitsaufgaben im Lager im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten entgegenwirkte. Küsel, so stellt es der Verfasser dar, habe dabei weniger aus einem festen Vorsatz heraus gehandelt, sondern aus dem unmittelbaren Erkennen der für die Inhaftierten unmenschlichen Lage heraus; es sei die situative Intelligenz, die Küsel zu seinem Handeln brachte, in dessen Folge er viele Menschenleben retten konnte, ohne dies jemals von sich selbst erwartet zu haben.
Sebastian Christ arbeitet die Lebensgeschichte von Otto Küsel chronologisch auf. Dessen Zeit im Stammlager Auschwitz 1940-1944 nimmt in etwa die Mitte des Buches ein. Wenig Auskünfte kann Christ über Küsels frühe Jahre geben: Er wird am 16. Mai 1909 in Rixdorf geboren, das später als Neukölln nach Berlin eingemeindet wird. In den 20er und 30er Jahren lebt er vom Betteln und Hausieren, es folgen Eigentumsdelikte, für die er zwischen 1929-1935 mehrere Gefängnisaufenthalte absitzen muss. Spätestens im März 1937 wird er von der GeStaPo verhaftet und anschließend in das Konzentrationslager Sachsenhausen überstellt. Dort galt er als „Berufsverbrecher“ (S. 27) und sah sich dessen „brutalen Alltagsklima“ (S. 28) ausgesetzt. Dort lernte er, „Lücken im System aus[zu]nutzen“ (S. 32). Mit dem deutschen Überfall auf Polen und der Besetzung des Landes wurden Pläne für den Bau eines Konzentrationslagers in der südpolnischen Stadt Oświȩcim in die Tat umgesetzt: Am 20. Mai 1940 gelangte Otto Küsel in das neu errichtete Lager Auschwitz. Seine dortige Aufgabe: Funktionshäftling, sog. Kapo, zu sein. Christ verknüpft in diesen Abschnitten (S. 15-48) Küsels Werdegang vor allem mit Erläuterungen zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten und Beschreibungen zur Intention, Planung und Bau der KZs vor und unmittelbar nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Küsels Zeit im Lager Auschwitz (S. 49-83) ist quellenbedingt mit Personen verknüpft: Lagerleitung und -aufseher, Inhaftierte und andere, die seinen Weg kreuzten. Vieles über Küsels Persönlichkeit stammt aus den schriftlich überlieferten Erinnerungen seiner Mithäftlinge. Dem Schicksal der Polen fühlte er sich besonders verbunden, er erlernte ihre Sprache, und so gelang es Küsel, einerseits das Vertrauen der polnischen Inhaftierten zu erlangen. Durch seine straffe Organisation der Arbeitsabläufe erntete er andererseits durch die Lagerleitung Achtung. So, wie Küsel dies koordinierte, entstand daraus kein Widerspruch, sodass er als Helfer auf der einen und als zuverlässiger Ausführender auf der anderen Seite im Lager angesehen wurde. Dass seine Anstrengungen hauptsächlich dem Wohle der polnischen Häftlinge dienten, macht Christ mehrfach deutlich, wie dies auch durchweg in den Aufzeichnungen der Auschwitzüberlebenden zu finden ist.
Eine Zäsur in Küsels Lagerleben stellte seine Flucht am 29. Dezember 1942 dar (S. 85-141). Neun Monate lang konnte er sich vor den Fängen des nationalsozialistischen Regimes verbergen, was nur Dank Unterstützung des polnischen Widerstands gelang, bis er im September 1943 verhaftet, danach wieder in Auschwitz eingeliefert wurde und mit einer Erschießung rechnen musste. Doch ihm springt das Glück zur Seite; zwar wurde er seiner Privilegien beraubt, aber eine Amnestie des neuen Lagerleiters bewahrte ihn vor der Tötung (S. 143-165): Vom 25. September bis zum 24. November 1943 inhaftiert in Block 11 des Lagers, überstand er körperliche Übergriffe und Androhung von Folter, da aufgrund eines Korruptionsskandals „Kommandant“ Rudolf Höß und der „alte Lagerführer“ Maximilian Grabner nicht mehr „dagewesen“ seien (S. 160), wie Küsel selbst seine Lage im Frankfurter Auschwitz-Prozess schilderte. Tatsächlich folgte auf Höß Arthur Liebehenschel, der eine „organisatorische Neugliederung des Lagerkomplexes“ (S. 162) veranlasste und die Erschießungen von Insassen des Blocks 11 beendete.
Küsel hatte während dieser Zeit Kontakt zu inhaftierten polnischen Intellektuellen wie Józef Cyrankiewicz und zu SS-Hauptscharführer Gerhard Palitzsch, der als einer der schlimmsten Massenmörder von Auschwitz nach gesellschaftlichem Absturz selbst gefangen gesetzt worden war.
Am 4. Februar 1944 folgte Küsels Deportation nach Flossenbürg in Bayern (S. 167-182). Hier war ein Standort der Messerschmitt-Produktion, bei der er Frachtpapiere sortierte, während andere zur Arbeit im dortigen Steinbruch geschickt wurden. Am 16. April 1945 organisierte die SS einen letzten „Todesmarsch“ von Flossenbürg aus nach Süden, um den heranrückenden US-Truppen zu entkommen. Küsel scheint in diesen Wirren aus dem Lager entflohen zu sein, wie Christ vermutet. Am Tag des Kriegsendes in Europa, am 8. Mai 1945, wurde Küsel im „Hospital 216“ in Neunburg aufgenommen (S. 183), in dem er sich als polnischer Staatsbürger ausgab. Nach einem kurzen Besuch in Polen, heiratete er am 3. Dezember 1945 Rosina Wellenhofer in Schwarzhofen, wo er endgültig sesshaft wurde (S. 183-196).
In der auf deutscher Seite anstehenden juristischen Aufarbeitung der Gräueltaten in Auschwitz im August 1964 (der entsprechende Krakauer Prozess war bereits 1947 abgeschlossen worden), war Küsel einer von 211 Zeugen (S. 197-219), obwohl er anfangs „keinerlei Interesse daran“ (S. 200) hatte. Die psychische Belastung und wohl auch seine kriminelle Vergangenheit, wie Christ vermutet, ließen ihn zögern, an dem Verfahren teilzunehmen. Während seiner Aussage am 73. Verhandlungstag unterstellten ihm die Richter Hans Hofmeyer und Werner Hummerich gar eine Spitzeltätigkeit für die „Politische Abteilung“ im Lager Auschwitz. Erst Küsels Hinweis auf seinen Mitinhaftierten und 1964 amtierenden polnischen Ministerpräsidenten Cyrankiewicz entkräfteten Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit. Denn weder Hummerich noch Hofmeyer maßen zu diesem Zeitpunkt der Prozessführung Zeugenaussagen eine starke Beweiskraft zu, woraus ihre Skepsis gegenüber Küsels Angaben resultierte; hinzu kommt nach Ansicht Christs eine ablehnende Haltung gegenüber den Schilderungen eines ehemaligen inhaftierten Kriminellen. Das Bild Küsels in Polen dagegen ist geprägt von einer steten Hilfsbereitschaft, wo sie nötig und möglich war (vgl. S. 212). Sein Widerstand war für die NS-Täter und wahrscheinlich für ihn selbst unsichtbar, nicht aber für die Geretteten.
Sebastian Christ ist es eindrucksvoll gelungen, ausgehend von der Biografie Otto Küsels ein Zeitporträt der Lebensumstände des Konzentrationslagers Auschwitz vom Beginn bis zum Ende der Inhaftierung des Häftlings Nr. 2 zu zeichnen. Christs Perspektive ist angelehnt an Küsel ausgerichtet auf die geplante Vernichtung und durchgeführte Tötung der polnischen Inhaftierten. Der Autor verknüpft intelligent – bisweilen manipulativ, wenn die Grenzen zwischen Aktionen und Personen verwischen oder wenn sich der Verfasser von Küsel entfernt und Handlungen anderer vordergründig in das chronologische Gerüst schiebt – durch Archivmaterialien belegbares Zeitgeschehen mit den persönlichen Erinnerungen insbesondere der Opfer. Die daraus entstehende Gesamtperspektive ist beeindruckend und bedrückend zugleich. Dem wie selbstverständlich täglich stattfindenden Tod in dem Lager Auschwitz steht ein Mann mit kleinkrimineller Vergangenheit entgegen, ohne dass bis heute abzuschätzen ist, wie viele Menschenleben Otto Küsel durch seinen Einsatz hat retten können. Die umfangreiche Recherche, die in das Buch eingeflossen ist und insbesondere Ausführungen zu Lagerorganisation und -leben sowie zahlreiche biografische Skizzen der Täter und Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft einschließt, machen das Buch über Auschwitzhäftling Nr. 2 besonders lesenswert.