Kam der Angriff Russlands auf die Ukraine tatsächlich so überraschend, wie er im Allgemeinen wahrgenommen wird, oder aber ignorierten viele Verantwortliche vor allem in Europa eine seit mehr als dreißig Jahren schleichend zunehmende Einmischung russischer Interessen in die Politik der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, von der die Regionen des Südkaukasus und Zentralasiens betroffen sind, Georgien, Armenien, die baltischen Staaten, die Republik Moldau – und eben die Ukraine, die auf Betreiben Wladimir Putins seit 2014 und insbesondere seit dem 24. Februar 2022 einem russischen Vernichtungsfeldzug ausgesetzt ist.
Gesine Dornblüth und Thomas Franke haben zahlreiches publiziertes Material zusammengetragen, um einerseits den russischen Imperialismus zu beleuchten und andererseits die Mechanismen zur Unterdrückung von nationaler Eigenständigkeit, Demokratie und wirtschaftlicher Unabhängigkeit aufzuzeigen. Anhand verschiedener, in sich abgeschlossener Essays werden Stellungsnahmen von z.B. dem russischkritischen Bürgerrechtler Dato Turaschwili aus Tiflis (S. 15-24) oder von Mariam aus Eriwan (S. 45-51) wiedergegeben, die ihre Erfahrungen, Sorgen und Hoffnungen formulieren, die die Zeit russischer Oberhoheit über die heute selbstständigen Staaten reflektieren oder die sich aus dem Protest gegen russischfreundliche Regierungen, die die Interessen des eigenen Volkes ignorieren, speisen.
Darüber hinaus wagt der Band den Blick in die Zukunft: Worauf müssen sich russische Anrainerstaaten einstellen, mit welchen Mitteln versucht die russische Administration, Einfluss auf Bürgerinnen und Bürger, auf Politikerinnen und Politiker benachbarter und europäischer Staaten zu gewinnen, und welche Perspektiven könnte einer russischen Regierung – ausgerichtet auf die Zukunft Europas – vorschweben (S. 207-220)? Hierbei spielen angeblich historische Legitimation (S. 67-94), Russisch als angedachte Universalsprache dieser Regionen (S. 95-114) und ultrareligiöse Herrschaft (S. 127-139) bedeutende Rollen.
Die Mittel, die Interessen der russischen Führung – deren ständiger Abgesandter die Angst ist (S. 53-66) – reichen von Anschlag und Mord über Bluff und bewusste Desinformation bis zur Schaffung wirtschaftlicher und technologischer Abhängigkeiten. Unterstützend wird eine historische Dimension eingezogen: der Sieg der Sowjetunion, als deren Nachfolger sich Russland versteht, über den deutschen Nationalsozialismus. Gemeinsam agierten die sowjetischen Völker zusammen mit anderen Staaten gegen unmenschliche Werte der deutsche Gewaltherrscher, die weite Teile Europas unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Zurückerobert werden nicht nur Territorien; das kulturelle Gedächtnis an den Sieg geht einher mit der Rückgewinnung kultureller und nationaler Eigenständigkeit, dem Wiedergewinnen der menschlichen Werte und Frieden. Auch den besiegten Deutschen wurde die Hand gereicht: Die Sowjetunion – allen voran Russland – habe nicht gegen Deutschland, sondern gegen Nazideutschland gekämpft. Und die Deutschen seien die ersten Opfer dieses Regimes gewesen (vgl. S. 86). Wie aber sollen die am Krieg Beteiligten angesichts des russischen Eroberungskriegs, der Massaker in der Ukraine, der beabsichtigten Tilgung nationaler und kultureller Identitäten und der Vernichtung von Menschenleben im Kriege oder bei der Ausschaltung politischer Gegner, wie also soll man sich noch gemeinsam an den Sieg über das nationalsozialistische Unrechtsregime erinnern können, wenn einer der damaligen Partner die liberalen Werte und die Menschenrechte, deren Herstellung der Anspruch des großen Krieges wurde, gegenwärtig mit Füßen tritt? Diesen Verlust eines gemeinsamen Wertekonsens stellt Putins Gift immer wieder über verschiedene Kapitel hinweg als zentrales Element in den Blick.
Autorin und Autor klären ferner darüber auf, weshalb russische Propaganda trotz Aufklärung und Information immer noch verfängt. Die russische Doktrin vermittelt, „dass der Einzelne für kollektives Handeln keine Verantwortung trage“ (S. 86). Demokratie aber lebt von der individuellen Verantwortung, von der Verantwortlichkeit des Einzelnen. Dies mag erklären, weshalb es Demokratiebewegungen in den ehemaligen Sowjetrepubliken und in den Ländern, die unter sowjetischer Einflussnahme standen, so schwer haben, in ihren Bevölkerungen akzeptiert zu werden. Der die Menschen umsorgende Oligarch oder Diktator ist im Falle eines Scheiterns der alleinig Verantwortliche. Mit der Aufarbeitung individueller Schuld im Krieg und während der Vernichtung Verfolgter in den Konzentrationslagern, ist in europäischen Ländern ein anderer Weg in die zukünftige Ausrichtung ihrer Gesellschaften beschritten worden als in Russland. Unsere Demokratien zu schwächen hat das Ziel, die Eigenverantwortung und die Selbstbestimmung der Menschen, die in ihnen leben, zu zerstören und sie in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Russland zurückzuführen.
Der Widerstand derjenigen Staaten, die in ihrer Geschichte die russische Fremdherrschaft erleben mussten, ist daher besonders stark und die politischen Akteure besonders aufmerksam. Deren kritischen Blick fordert dieses Buch auch für seine Leserschaft ein. Sorgsam recherchiert, präzise formuliert und sehr gut lesbar stellt es die Bedeutung steten Widerstands gegen die aktuelle russische Regierung heraus – vielleicht auch gegen zukünftige.