Es sind die unbekannten Wasserwelten, mit deren fiktiven Beschreibungen vor allem Jules Verne seine Leserschaft fesseln konnte. Wie aber geht es in den Tiefen der Meere wirklich zu? Expeditionen zum Meeresgrund – sei es, die Fauna und Flora in hunderten Metern Tiefe zu erforschen, sei es, ein Wrack zu erkunden – bieten Kultursender oder Online-Portale rund um die Uhr an. Bilder von skurril anmutenden Tieren oder bizarr gestalteten Felsformationen, entstanden durch unterseeischen Vulkanismus, werden mannigfach vervielfältigt und prägen inzwischen das moderne Bild der Tiefsee und ihrer Erforschung. Durch ihre Abgeschiedenheit geheimnisvoll interessant, ist sie zugleich die größte Ausdehnung unseres Planeten und bietet immer noch Raum für neue Entdeckungen.
Die Tiefseeforschung ist jung. Der Beweis für Leben in den lichtlosen und kühlen Regionen der Meere wurde im 19. Jahrhundert erbracht, und erstmals 1930 drangen Menschen dorthin vor. Und genau diesem Ereignis, nicht einmal 100 Jahre zurückliegend, widmet sich das vorliegende Buch Leuchten am Meeresgrund. Aus dem Logbuch der ersten Tiefsee-Expedition in der Übersetzung von Susanne Schmidt-Wussow. Das englischsprachige Original ist mit dem National Book Foundation‘s Science + Literature Award 2024 preisgekrönt, aufgrund der „hypnotic assemblage of brief chapters along with over 50 full-color images, records from the original bathysphere logbooks, and the moving story of surreptitious romance between Beebe and Hollister that anchors their exploration. Brad Fox blurs the line between poetry and research, unearthing and rendering a visionary meeting with the unknown.“ (https://www.nationalbook.org/programs/science-literature/#tab-3, konsultiert am 11.02.2025). Charles William Beebe (1877 – 1962) war amerikanischer Biologe und Gloria Hollister, verheiratete Anable (1900 – 1988), seine damalige Assistentin, die Chronistin dieser ersten Tiefsee-Expedition. Komplettiert wurde das Kernteam mit dem amerikanischen Ingenieur Frederick Otis Barton Jr. (1899 – 1992), der die „Tiefenkugel“ – Bathysphäre genannt (s. Abb. 1 u. 22) – entworfen hatte und konstruierte. Der in ihrem Inneren stets gleichbleibende Druck erst ermöglichte es, in hunderte Meter Tiefe hinab vorzudringen.
Dieser Tauchgang von 1930 – genauer der Vormittag des 11. Juni und zugleich dreißigster Geburtstag von Gloria Hollister – will das vorangestellte zentrale Ereignis aller nachfolgender Betrachtungen sein. Mit zeitlichen Vor- und Rücksprüngen ummantelt der Autor Brad Fox diesen Abstieg in 427 Meter tiefblaues, dunkles Wasser, auf dessen Weg Beebe über ein Kabel stichpunktartig an Hollister berichtet, was vom Scheinwerferlicht der Unterseekugel, in der sich gleichfalls Barton befindet, erfasst wird: Fische, Quallen, Garnelen und ein Kalmar. Es sind jene Protokolle, die in der Manuscripts Division, Department of Special Collections, Princeton University Library und dem Wildlife Conservation Society Archives Repository lagern (vgl. S. 14-15). Immer wieder verstreut setzt sie Fox in seine Schilderung unvermittelt ein: S. 11, S. 12, S. 32-34, S. 42-43, S. 58, S. 84, S. 100, S. 113, S. 117, S. 121, S. 125-126, S. 133-135, S. 139-140, S. 146-147, S. 150-151, S. 160, S. 183, S. 193 und S. 267. „Strahl ein. Strahl aus. Strahl ein. Strahl aus.“ (S. 58) oder „Sauerstoff 363 kg, Barometer 80, Luftfeuchtigkeit 74 %, Temperatur 20 oC“ (S. 183) wird dort mitgeteilt. Die Einträge taugen erkennbar nicht viel, um aus ihnen einen „spannenden Bericht der ersten bemannten Tiefsee-Expedition“ (U 4) zu machen. Fox erweitert daraufhin sein Buch um die „ganz persönliche[] Geschichte ihrer Teilnehmer“ (U 4)(zu ergänzen ist „und der Teilnehmerin“).
Für den Verfasser Fox ist Beebe der spiritus rector des gesamten Unternehmens, sodass sich Autobiografisches weitgehend auf ihn fokussiert. Dies jedoch extrem weitschweifig: Erwähnt werden seine beiden Ehefrauen Mary Blair Rice und Harriet Ricker (alias Elswyth Thane)(S. 27-28, S. 262), Mitarbeiterinnen wie Else Bostelmann und Helen Damrosch Tee-Van (S. 47-50) sowie Isabel Cooper (S. 71-73) und seine „Kuratorin von Aufzeichnungen, Katalogen und lebendigen Tieren“ (S. 91) namens Ruth Rose (S. 85-92) oder Jocelyn Crane (S. 261, S. 264), eine barmherzige Schwester aus Sussex, das Zooleiterehepaar von Gizeh Captain und Mrs Flower (S. 59), die asiatischen Bergführer Hadzia (S. 60) und Rassul Akhat (S. 61), der Unternehmer Gaylord Wilshire (S. 74-76), der Taxifahrer Red Christensen (S. 93), der Dokumentarfilmer und spätere Co-Regisseur des Films „King Kong und die weiße Frau“ (1933) Ernest B. Shoedsack (S. 95, S. 206-208), der Gastronom und Cartoonist Don Dickerman (S. 98), die Gala-Gäste des Bureau Pond (S. 101), eine amerikanische Bewunderin (S. 102-103), der Inselbewohner Immanuel Steward (S. 103), Beebes Freund William Morton Wheeler (S. 119), der Verfasser verschiedener rassistischer Schriften Madison Grant (S. 167-169), Mbye Otabenga (S. 170-175), verschiedene „Superdiener“ (S. 177), weitere Mitarbeiter (S. 181), der Cartoonist Rube Goldberg (S. 187), der „Seeteufel“ Graf von Luckner (S. 196-197), Beebes Bekannte Mary Hunter (S. 200-202), Edmona Travis Strader Schlesinger Bush Williams von Bismarck-Schönhausen de Martini (S. 209-212), Kapitän Sylvester (S. 214-216), der Hotelbesitzer Beebe und dessen Frau (S. 234-235), die Schauspielerin Luisa Velasco (S. 236), Soldaten und der jugoslawische Botschafter (S. 239-240), das Äffchen Chiriqui (S. 247), die Schriftstellerin und Biologin Rachel Carson (S. 254-258) und eine Reihe kritischer Leser (S. 227). Genutzt werden sie zumeist zu einer Skizzierung einer kurzen persönlichen Begegnung mit Beebe, der Finanzierung seiner Vorhaben oder einer zeitgeschichtlichen Begebenheit. Doch manches Mal sind sie nichts weiter als Prominente ohne einen direkten persönlichen Kontakt zu ihm, da Beebe statt ihrer mit deren Angehörigen in Verbindung gestanden hatte. Auf einen erklärenden, gar erhellenden Rückbezug zu Beebe hofft man trotz der Vielzahl der Namen indes vergebens – bis auf zwei Ausnahmen: das Ehepaar Roosevelt (S. 63-65) und Lord Dunsany (S. 105-108). Fox erwähnt den ehemaligen Präsidenten kontrastierend zu dem seiner Meinung nach zweifelnden, zögerlichen Wissenschaftler, der durch feste Bindungen eine Art Sicherheit erhält. Roosevelt ermutigt ihn, gibt ihm Ratschläge, tauscht sich mit ihm aus – und Beebe reagiert darauf. Mit Dunsay verbindet den Forscher, dass beide „auf ihre Art Kinder“ waren, „die ihren frühen Träumen verhaftet blieben“ (S. 108).
Immer wieder lenkt Fox seine Betrachtung auf Gloria Hollister. Er zeichnet sie nach den Beschreibungen Beebes wie seine Muse, seelisch wie körperlich. Den Blick der Frau auf den Mann erwähnt der Verfasser lediglich kurz: „Nirgendwo erwähnt sie, Beebe geküsst“ zu haben (S. 18). Und dennoch hält Fox an seiner Schilderung einer intimen Beziehung durchgängig fest. Für ein gutes Buch braucht es eben Liebesbeziehungen – „Sex sells“ ruft es der Leserschaft hier entgegen – und wenn die Ehefrauen dafür nicht genügen, müssen es eben die Mitarbeiterinnen sein.
Über Otis Barton ist in Fox’ Buch kaum etwas zu erfahren: „dünn“ (S. 9), „aufbrausend, eifersüchtig“ (S. 10), und das „Wippen und Schaukeln der Bathysphäre machten ihn seekrank“ (S. 30). Auf anderthalb Seiten ist die Idee der beiden Männer für den stählernen Tiefseezylinder komprimiert zusammengefasst, nebst einer kurzen beruflichen Skizzierung des Ingenieurs. Gegen Ende des Buches greift Fox die spätere filmische Vermarktung der Tauchgänge auf: Unter dem Titel „Titans of the Deep“ wird eine „Hollywood-Kreuzung zwischen Wissenschaft und Abenteuer“ (S. 241) – „ein Mischmasch aus alten Bathysphären-Aufnahmen, die Barton gerettet hatte, die meisten ohne Beebe in Panama gemacht“ (S. 241) – lediglich von dem Konstrukteur der Unterseekapsel autorisiert in den amerikanischen Kinos gezeigt. Die Nennung von Beebes Namen veranlasst den Ökologen, sich und sein Team schriftlich „komplett von diesem Film“ zu distanzieren, da „es sich vollständig um das Werk von Mr Barton handelt“ (S. 242).
Ein Konzentrat zum angekündigten Inhalt des Buches – zu den Tauchgängen – ist auf den Seiten 125 bis 160 zu finden. Thematisiert werden in verschiedenen, kurzen Kapiteln die Abgeschieden- und Dunkelheit der Tiefe, Tierleben, der Tiefendruck, Fische wie Monster, unbekannte Organismen und Quallen. Verharren wir noch kurz bei dem zweiten Aspekt des Buches: dem Leuchten. Beim Abstieg Richtung Meeresgrund „verändert sich allmählich das Licht. Die warmen Töne der Erdoberfläche werden vom Wasser absorbiert.“ (S. 10) Blau- und Grüntöne, „langsam in Schwarz übergehend,“ (S. 11) werden immer wieder durch Biolumineszenzen in einer Art „von Mini-Explosionen“ (S. 11) erhellt. Und obgleich das Schwarz schwärzer „als die schwärzeste Nacht“ ist, ist es dennoch „hell leuchtend“ (S. 12). Beebe war, wie das Buch von Fox dokumentiert, von den unterseeischen Farbspielen fasziniert, die ihn bei seinem ersten Tauchgang in der Bathyspähre vollkommen überrascht zu haben scheinen. So erforschte er die Veränderungen im Farbspektrum in der Folgezeit genau (S. 41-44). Buchautor Fox gibt seiner Leserschaft hierfür mehrere schlaglichtartige Episoden aus der frühen Wissenschaft zur Licht- und Farbenforschung an die Hand: Leonardo da Vinci (S. 45), Isaac Newton und Johann Wolfgang von Goethe (S. 51-56) betreten kurz die Bühne, waren aber wohl nie von Interesse für Beebe selbst gewesen. Dass Newtons physikalische Erklärung zur Entstehung der Farben gegenüber Goethes Ansatz einer physiologischen Deutung als allgemein anerkannt gilt, ist unbestritten. Fox macht ergänzend darauf aufmerksam, dass Farben im Auge ihrer Betrachter stets eine eigene Realität haben. Goethe irrt demnach nicht ganz, wenn er Farben als Ergebnis des Geistes beeinflusst durch einen universellen Ansatz der Naturbetrachtung und seine Beobachtungsgabe versteht. Auch Beebe war dieses ganzheitliche Erfassen zu eigen: „Keine Aktion und kein Organismus steht für sich allein“ (S. 68), so lautet der Antrieb seiner Forschung. Leider bringt Fox diese beiden Gedankengänge nicht zueinander.
Haptisch wie ästhetisch ist vorliegender Band durchweg gelungen; man nimmt ihn gerne in die Hand, in der er gut liegt, blättert durch die Seiten, stößt immer wieder auf sehr gute Reproduktionen alter Fotografien, Abschriften und vor allem auf die der vielfarbigen Zeichnungen. Doch so sehr das Äußere des Buches zu überzeugen vermag, verlangt die Lektüre der Leserschaft viel ab. Fox verzichtet auf eine deutlich erkennbare Struktur seines Buches. Es ist eine Aneinanderreihung von Logbuchaufzeichnungen, Bibliografischem, Zeitgeschichtlichem und ein wenig Anekdotischem in einem steten Wechsel. Wer sich von Kapiteleinteilung, Gliederungen oder Absätzen eine Orientierungshilfe verspricht, wird in diesem Buch enttäuscht. Fox springt von (Ab-)Satz zu (Ab-)Satz, von einem flüchtigen Gedanken zum nächsten, rund um die Welt und durch Zeiten hindurch. Sein am häufigstes eingesetztes Stilmittel ist Staccato. Manches Mal mutet sein Buchtext wie eine überdimensionierte Mitteilung eines Instant-Messaging-Dienstes an, der unverbunden aneinandergereiht wird. Kaum eine von Fox‘ Aussagen passt sich zu einem Gesamtbild zusammen, sodass sich die Frage stellt, wofür die gegebene Information überhaupt gebraucht wird. Sie erinnern an die Ergebnisse einer Internet-Suchmaschine, deren mögliche Zusammenhänge durch die Lesenden selbst hergestellt werden müssen. Auch die „Titelformulierung der deutschen Ausgabe“ (S. 294) wird im Band selbst zu Recht kritisiert: Der Terminus „Tiefsee-Expedition“ im Untertitel wäre durch die „‚bemannte‘ Tiefseeforschung“ (S. 294) zu ersetzen. Durchweg alle Punkte – beginnend mit der „hypnotischen Zusammenstellung kurzer Kapitel“ über die „bewegende Geschichte der heimlichen Romanze zwischen Beebe und Hollister“ bis zum „Verwischen der Grenze zwischen Poesie und Forschung“, die zur o.a. Preisvergabe an das Buch führte, sind bei der Betrachtung hier die entscheidenden negativen Kritikpunkte. Nicht eingestellt hat sich abschließend die versprochene „visionäre Begegnung mit dem Unbekannten“.