Die acht Beiträge des Bandes gründen auf Vorträgen und Diskussionen im Rahmen des zweiten Ravensberger Kolloquiums im Januar 2023. Grundsätzlich wird die Grafschaft Ravensberg in diesem Band als relativ fernes Nebenland der Vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg beziehungsweise als Glied des brandenburgisch-preußischen Konglomeratstaates gefasst (S. 51). Ravensberg wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts von der Zugehörigkeit zu einem zusammengesetzten Territorialverbund in ein neues staatliches Zugehörigkeitsgefüge überführt: Berlin ersetzte Düsseldorf als Bezugspunkt. Der Startpunkt für diese Entwicklung war der Erbfall von 1609. Dieser führte zunächst zur Fiktion einer gemeinsamen Herrschaft der ‚Possedierenden‘ und danach recht rasch zu einem Konflikt zwischen Kurbrandenburg und Pfalz-Neuburg um die Kontrolle über die einzelnen Landesportionen der Erbmasse Jülich-Kleve-Berg-Mark-Ravensberg. Die endgültige Herrschaftsübernahme durch Kurbrandenburg in der Grafschaft Ravensberg (1647) einerseits und die Vereinigung Ravensbergs mit dem Fürstentum Minden (1719) sowie die Verwaltungsreform König Friedrich Wilhelms I. (1722/23) andererseits stecken den zeitlichen Rahmen für die überwiegende Anzahl der einzelnen Untersuchungen ab.
Das teils auch von der Geschichtsforschung tradierte Bild, wonach die kurbrandenburgische Herrschaft über die Grafschaft Ravensberg mit dem Erbfall im Jahr 1609 ihren Anfang genommen habe, wird kritisch aufgearbeitet. Stattdessen wird ein fünf Phasen umfassendes Modell vorgestellt, das die Herrschaftsteilungen und -verschiebungen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts aufzeigt – bis einschließlich zur kurbrandenburgischen Herrschaftsübernahme (1647/53) (Beitrag von Wolfgang Schindler). Aufgrund des Rezesses zwischen der ravensbergischen Ritterschaft und dem brandenburgisch-preußischen Landesherrn von 1653 erhielt das kleine Nebenland ein eigenes Appellationsgericht in Berlin und beschritt einen verfassungsrechtlichen Sonderweg. Von Seiten des Berliner Zentrums her blieb die Umsetzung der zugesagten rechtlichen Ordnung jedoch unvollständig (Tobias Schenk). Das relativ herrscherferne Nebenland Ravensberg war noch um 1600 ein vom landsässigen Adel geprägtes Land mit schwach entwickelter Staatlichkeit. Auf der Verwaltungsebene der Ämter wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts zunehmend juristisch gebildetes Personal eingesetzt. Diese Professionalisierung ging einher mit dem Aufkommen gut vernetzter Beamtengeschlechter wie den Consbruch und Meinders (Nicolas Rügge). Zur Aufsicht über die Instandhaltung der Landwehren und zur Organisation der Landfolge setzten die ‚Possedierenden‘ 1609 einen Landhauptmann (oder vielmehr einen „Bauernhauptmann“, S. 170) ein. Angesichts der militärischen Herausforderungen des 17. Jahrhunderts wurde die fehlende militärische Relevanz der älteren Wehrverfassung offenbar; zugleich wurde das Amt zu einem Erbamt innerhalb einer Familie bei schlechterer finanzieller Ausstattung desselben (Uwe Standera).
Die wirtschaftliche und demographische Entwicklung Ravensbergs war geprägt von den multiplen Krisen und Herausforderungen des 17. Jahrhunderts. In der tradierten Erzählung wurden die Erholungsphasen des „Linnenländchen[s]“ (S. 173) im weiteren Verlauf des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts lediglich unter dem Blickpunkt von beginnender Agrarrevolution und einsetzendem protoindustriellem Gewerbe gesehen; die bestimmenden Faktoren waren jedoch vielgestaltiger (Philipp Koch). Angesichts des Fehlens einer eigenen Kirchenordnung wurde auf die Normentexte benachbarter lutherischer Territorien zurückgegriffen, was die etwaige Ausbildung eigener Praktiken, bis hin zu konfessionellen Mischformen, begünstigte. Visitationsprotokolle geben einen Einblick in das religiöse Alltagsleben der ravensbergischen Landgemeinden im späten 17. Jahrhundert (Sebastian Schröder). Die im geographischen Raum der Grafschaft gelegenen Kanonissenstifte Herford, Schildesche und Quernheim waren in rechtlicher Hinsicht von erheblich unterschiedlichem Status, standen jedoch alle in den späten 1620er Jahren unter Rekatholisierungsdruck. Unter der etablierten kurbrandenburgischen Landesherrschaft nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges erfolgte keine landesherrliche Anwendung des ius reformandi. Die Stifte befanden sich auf je eigenen konfessionellen und institutionellen Entwicklungspfaden (Ulrich Andermann). Aufgrund der schwierigen Materiallage lässt sich eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit in der Bau- und Sachkultur für die Jahrzehnte um 1600 nur schwer greifen. Ein Niedergang ist in quantitativer – wenn freilich auch nicht in qualitativer – Hinsicht für die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, hier vor allem in den 1630er Jahren, fassbar. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts trat, wenn auch mit krisenbedingten Schwankungen, eine Erholung beim Hausbau auf dem Land ein (Lutz Volmer).
Die gut miteinander abgestimmten Beiträge verorten sich zeitlich im „langen 17. Jahrhundert“ (S. 177). Aufgrund der teils spärlichen Überlieferungslage der Quellen liegt der Fokus der meisten Betrachtungen in diesem Band auf dem späten 17. und dem frühen 18. Jahrhundert. Die Betrachtungsperspektive ist stark brandenburgisch-preußisch geprägt, der Kontext von Reichskreis und gesamtem Reich nimmt in den Studien eher eine nachgeordnete Rolle ein. Ein Personen- und ein Ortsregister runden den sehr informativen Band ab.