Vergangenheitskonstruktionen
Erinnerungspolitik im Zeichen von Ambiguitätstoleranz

Etwas Schwelendes, Dräuendes über den Menschen (siehe Zeichnung ‚Rauchgeschöpfe‘ am Frontispiz) und etwas Schwärendes in ihnen wird hier verhandelt: konkreter, animose Gefühlslagen, negative Empfindungen, die bei der Ausgestaltung, Bebilderung, Konstruktion ihrer jeweiligen Vergangenheiten sich fatal auf deren gegenwärtige Bewertungsmodi auswirken (können). Mit der Feststellung: „Sicher ist, dass Erinnerungen an geschichtliches Unheil all gegenwärtig sind“ (S. 301), wird eine universelle Gültigkeit dieses Phänomens behauptet, wobei mit der Vernachlässigung positiv gestimmter Gefühlslagen auch schon das Beispiel zur Übung jener Haltung gegeben wird, für die das Autorenteam zentral wirbt: Ambiguitätstoleranz.

Vorliegende Publikation verdankt sich einer Initiative des 2022 gegründeten ‚Bonner Zentrums für Versöhnungsforschung‘. Die Beiträge bauen auf der seit 25 Jahren „kaum zu übersehenden Hochkonjunktur zum Themenfeld Gedächtnis, Erinnerung und Geschichte“ (S. 71) auf; wegen deren Spezialisierung auf die Parole: ‚Ambiguitätstoleranz‘, kommt das Team in diesem Fall aus den Disziplinen Soziologie, Politologie, Rechtsphilosophie, Zeitgeschichte, Theologie und Literaturwissenschaft. Insgesamt werden Konturen eines Umrisses, in Form von Darlegungen zur Problemstellung im Rahmen der Fachrichtungen, Definitionen und Anwendungsbeispiele auf Spezialfälle geboten. Der von der nämlichen Herausgeberschaft vorgelegte Band: ‚Versöhnung. Theorie und Empirie‘ (Göttingen 2023) verspricht hingegen mehr Systematik.

Mehrere Beiträge referieren auf politphilosophische Theoreme Hannah Arendts, so basal auf deren Definition des Politischen als dem „‘Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen‘“, dem Entstehen und Bestehen der Politik: aus „‘dem Zwischen-den-Menschen‘“ (S. 11). Das Unterkapitel ‚Deutungskämpfe‘ konstatiert eine heute endemische „Vielzahl eigengültiger Sozialsphären“ (S. 45), welche gravierende sphärische Störungen, Formen lautstarker Uneinigkeiten in den Gesamtgesellschaften provozieren können.

Genau da setzt zur Abhilfe die Ambiguitätstoleranz an, „die Menschen befähigt, Ungewissheit, Widersprüche, einander entgegengesetzte Meinungen und ‚Wahrheiten‘ nicht nur auszuhalten, sondern distanziert zu vergleichen und abzuwägen“ (S. 23). Schneisen der Orientierung theoretisch anzubahnen und lebenspraktisch zu begehen, soll durch Berücksichtigung der prinzipiellen Ambiguität von Sachverhallten geleitet sein, davon, „das Widersprüchliche, Changierende, vielfach Schattierte an[zuerkennen], um [daraus] Schlüsse für die Herstellung von Zukunft zu ziehen“ (S. 62).

Hingegen wird ausdrücklich auf „Ambiguitätsintoleranz insistiert bei einem Pauschalurteil, oft gefällt aufgrund der verwirrenden Zahl multipler Positionen in den Sozialmedien, wie: „‘ Nichts ist wahr, alles ist möglich.‘“ (S. 123). Desgleichen überschreitet ein völlig „geschichtsbefreite[r] Hyperindividualismus, an dem immer irgendwer schuld ist“ (S. 62), nie aber ein mehrfältiger Verursachungskontext, den Horizont von Toleranz. Begriffe wie ‘Wahrheiten‘ und ‚Schuld‘ (siehe oben), die generell das Denken der Menschen bestimmen, werden hier nicht weiter thematisch bemüht. Erleichtert wird die Bestimmung des Erkenntnisgewinns aus diesem Band durch die Hereinnahme eines mehr übergeordneten Standpunkts, mit der Kardinalfrage: ‚Was ist Wahrheit?‘.

Bei Beantwortung der in diesem Fall titelgebenden Frage heißt es in der ‚Philosophischen Einführung‘ bei Peter Janich (München 1996): 1. Wahrheit ist „nicht absolut endgültig, sondern […] nur vorbehaltlich vermiedener Argumentations- und Begründungsfehler gesichert“ (S. 46); 2. „erst das Handeln statt des Redens über das Handeln erlaubt eine […] befriedigend vollständige Beantwortung“(S. 99); sodass 3. „das erfolgreiche Handeln“ (S. 110) „immer relativ zum bereits Bewährten […] zu bewerten“ ist, bewährt im Hinblick auf „die bereits erreichten Kulturleistungen“ (S. 120). Ambiguitätstoleranz, so wie sie hier vorgestellt und geübt werden soll im Rahmen einer ‚Versöhnungsforschung‘, ist somit nur eine ihrer wesentlichen Komponenten, neben „Selbstdistanz, Vorbehaltlichkeit oder Verurteilungsaufschub“ (S. 48). Mit dem bei Janich erwähnten ‚Erfolg‘ können leider auch jene Folgeerscheinungen von Handlungsentscheidungen gemeint sein, die auf eine menschenrechtswidrige Weise die bereits erreichten Kulturstandards bei weitem unterschreiten, und dann bei den ‚Zurechnungskonflikten‘ (S. 107ff.), etwa bei Massenmord, schlagend werden.

Auch bei der exemplarischen Präsentation des „Prinzip[s] der Intertemporalität, also der Beurteilung der Gesetze zum Zeitpunkt ihrer Geltung“ (S. 142), schwebt die Wahrheitsfrage über den gegenständlichen Feldern. Im Falle geoffenbarter Wahrheiten, hier jene der jüdischen und christlich-katholischen Religion, wird sie innerkonfessionell beantwortet, empfiehlt gerade deshalb einen ‚interreligiösen Dialog‘ (S. 274). Der Hinweis E. Gardeis auf das „Paradox, dass mit jeder Deutung der Welt auch eine Vereindeutigung hinzugefügt wird, die wiederum Komplexitäten unterschlägt“ (S. 189), trifft besonders, was Ambiguität eignet. Besonders auf gegenständlichem Forschungsgebiet wird evident gehalten, dass parallel zu den nachwirkenden Spannungen durch vormalige Zerwürfnisse und ihren Verwerfungen, eine nachrückende Entstehung aktueller Zerwürfnisse zu gegenwärtigen ist.

Versöhnungsarbeit ist eine in Permanenz und bei weitem nicht die eines Lebenswerks, eher das von Generationen. Der Hinweis auf die ‚Barock‘ genannte Epoche, eine voller antithetischer Gegensätzlichkeiten, kann dies bestätigen: Namensgeberin ist die, portugiesisch, ‚barocco = unregelmäßige, schiefe Perle. – Das Phänomen ist bekannt, ihm wiederum und anders zu begegnen, schon weniger. Eine „verschollene Kompetenz“ (S. 24), nennt H.-G. Soeffner die Ambiguitätstoleranz. In diesem Sammelband stellt sich eine um einen sehr speziellen Aspekt, der kollektiv von größter Reichweite, gruppierte Forschungssparte erst vor.