Heller Weg, Donezk
Bericht aus einem Foltergefängnis

Der Bericht beinhaltet den Spezialfall einer Art staatlichen Einbürgerungsoffensive, praktiziert an dazu erklärten Spezialfällen von Menschen (noch vor der „Spezialoperation“ Russlands zur Annexion ukrainischen Staatsgebiets ab Februar 2022). Der in seiner Geburtsstadt Donezk (von 1924‒1961 Stalino) auf Veranlassung ukrainisch-prorussischer wie russischer Geheimdienste 969 Tage (2017‒19) inhaftierte Autor, wurde mittels Austausches freigelassen. Was er, als Journalist, hierauf zu schreiben vermag, sollte sich also herumsprechen.

Was macht die hier den Menschen bereiteten Qualen so besonders? Dass man sich in den Zellen mit Türen zudeckt (vgl. S. 94) wohl nicht, eher schon, um, als dressierter Reflex, sich durch Vergleiche mit (noch) Schrecklich(er)em „Erleichterung“ zu verschaffen, die Atmosphäre als Insass:innen eines deutschen KZ’s simuliert (S. 186/187). Unsäglich im Wortsinn ist es für den Autor, die Gefühle zu versprachlichen; „Erfahrungen dieser Art [sind] grundsätzlich nicht wieder[zu]geben“, notwendig sei es, „den Emotionen auf den Grund [zu] gehen, um sich davon abzustoßen und wieder nach oben zu kommen.“ (S. 246) Im Resultat “veränder[n]“ ihn “innerlich“ (S. 27) die Qualen in der verfügten Verwahrung, Abschottung zum Zweck demoralisierender Verwahrlosung ganz im Sinne der Peiniger, wenn er etwa sich und seinen Mithäftlingen eine Sonderrolle abspricht: „Sobald man sich in Freiheit befindet, spürt man, dass die ganze Besonderheit in einer langen grauen Warteschlange Platz findet, in der man für irgendwelche Papiere ansteht.“ (S. 241)

Entkommen - und angekommen in dieser „Freiheit“ bedeutet also nicht mehr als das Leben in einer halbwegs erträglichen, ebenfalls durch sozialrepressive Zurichtungen aufrechterhaltenen Herrschaftsordnung, einem ‚Kreis‘ außerhalb jener ‚innerer Kreise‘, von denen der Bericht vornehmlich handelt (vgl. A. I. Solschenizyn: ‚Der erste Kreis der Hölle. 1968). Besagte, einem Nukleus ähnliche ‚Kreise‘ erfüllen ihre Funktion gerade dadurch, indem „nur wenige Meter entfernt eine andere Welt [existiert]“ (S. 25). Die ‚inneren Kreise‘ bilden ihrerseits ‚Kreise‘ in sich, wo „in jeder Zelle andere Regeln [herrschten], jede nach ihrem eigenen perversen Geschmack [lebte]“ (S. 28). Dabei handelt es sich um die zurichtende Eingewöhnung in eine spezifische gesellschaftliche Herrschaftsweise mithilfe einer psychophysisch sozialen Fundamentalirritation, um eine präparierte Tauglichkeit dafür zu erzeugen, ukrainische Territorien staatlich der Russischen Föderation hinzuschlagen [sic!] zu können.

Die beschriebenen ‚Behandlungen‘ drohen jederzeit jedem an solchen dafür adaptierten Orten, wer sich der Einverleibung widersetzt. In diesem größeren Kontext sind Schauplatz, Handlungen und Atmosphäre zu sehen (parallel dazu die mittlerweile direkte militärische Intervention). Der Bericht wird in Kapiteln mit Überschriften (unter Aspekten) gegeben, vorwiegend chronologisch, mit Vorgriffen; es sind nachträgliche Bearbeitungen auch auf Basis situativ ‚frischer‘ Skizzenaufzeichnungen während der Haft. Die beigegebene Fotoserie unterstreicht den dokumentarischen Charakter. Mannigfaltig ist das Arsenal zur Irritation der Menschen, etwa die ethnische, soziale, nach den Delikten (Rechtsbrecher, politische Oppositionelle) völlige Durchmischung der Häftlinge, oder der übliche ständige Wechsel der „Belegung der Zelle“, „‘umschütten‘“ genannt (S. 160). Die Folterungen werden aufgezeichnet: „Terabytes von Aufzeichnungen, hunderte Stunden für internationale Gerichte“ (S. 15); die „meisten folterten ‚nach Plan‘“ (S. 69), wobei „es bequem [ist], jene für sich foltern zu lassen, die ‘vor nichts Halt machen‘“ (S. 73). Bei so viel Vorsätzlichkeit und Offensichtlichkeit, der Schaffung von ‚offenen Geheimnisträgern‘ fragt man sich, mit welchem Fundus jene rechnen können, die dies alles ersinnen, anordnen und ausführen.

Die Traktierungen sind möglich und werden ausgeübt auf der Basis von historischen Fortbeständen generationell weitergegebener geduldeter, geförderter und geforderter Gewohnheiten. Eine Art Nachnutzung (die ehemalige Isolatorenfabrik erhält dabei Verwendung) beim Reloading vormaliger sozialer Zustände, wobei die „Achterbahntaktik aus dem Handbuch der Sowjetzeit“ (S. 119) reaktiviert wird. Angesichts von Lenin-Porträts (vgl. S. 19), zu Sowjetliedern (vgl. S. 83), werden die Menschen daran gewöhnt, unter ihren Status‘ als Rechtssubjekte gedrückt zu werden, daran gewöhnt zu sein. Die hier zentrale Stätte figuriert als eine nachfassende wiederaufbereitete insulare Institution, eine Art ‚Akademie zur Übung in Anomie‘, mit bewusst durchlässigen Grenzen zu ihrem Außen: ein Ort, wo man die Geschehnisse „als normal betrachten musste, um nicht den Verstand zu verlieren“ (S. 79/80), „ein von jedem Sinn verlassener, für jeden Sinn unzugänglicher Ort. Unzugänglich auch für Vergebung.“ (S. 16)

Der Autor führt mit deutlichem Akzent auf seine Gefühle vor, wie er als ‚Schüler‘ den Effekten der aufgezwungenen Pädagogik zwar nicht ganz erliegt, dennoch durch sie nachhaltig befallen wird: „Ich […] bin Teil der Masse geworden, die stillschweigend alle Geräusche und Schreie des Krieges absorbiert, wie die Wände einer Gummizelle. […] ich weiß, dass auch in diesem Moment hunderte Menschen in irgendwelchen Kellern sitzen. […] Ich weiß es, aber das Gefühl ist verschwunden.“ (S. 232). Dafür möchte er „dem Leser die Möglichkeit lassen, irgendwo da draußen in seinen warmen vier Wänden anhand dieser Zeilen eine eigene Vorstellung zu entwickeln.“ (S. 206) Etwas auch noch auf sich zu halten für das, wofür diese Auftraggeber wohl gehalten werden (müssen) angesichts dem, was hier – für eine Öffentlichkeit – zur Sprache kommt, kann eine der oben genannten ‚Vorstellungen‘ der Leserschaft sein: ein sich brüstender Stolz auf das Vermögen zu derartiger (Ab)Schreckenswirkung. Für die leibhaftig Betroffenen hingegen sind, wenn diese Orte tatsächlich unzugänglich machen für Vergebung, die Erinnerungen an sie hellwach zu halten, nicht vergeblich: „Heller Weg, Donezk“!