Jüdische Geschichte in Thüringen
Strukturen und Entwicklungen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert

Zur jüdischen Geschichte in ganz Deutschland existieren eine ganze Reihe hervorragender Überblicksdarstellungen, aber bei den Darstellungen jüdischer Geschichte in einzelnen Regionen sind zahlreiche Lücken zu konstatieren. Der nun vorliegende Sammelband zur Jüdischen Geschichte kann diese Lücke für Thüringen zumindest zum Teil schließen. Er geht auf eine Tagung im Jahr 2021 zurück, ist in vier Kapitel vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert aufgeteilt, und umfasst 23 Beiträge, deren zeitlicher Schwerpunkt im 19. und 20. Jahrhundert liegt.

Jüdisches Leben im Mittelalter ist durch drei Beiträge repräsentiert. Sie behandeln die Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung seit dem 14. Jahrhundert und die Auswertung von Grabungen auf dem Erfurter Friedhof. Eine Studie zu hebräischen Rückvermerken an Thüringer Geschäftsurkunden öffnet ein neues Forschungsfeld zur Kreditpraxis und ihrer schriftlichen Verwaltung, das auch Einblicke in die Beziehungen zwischen Christen und Juden erlaubt.

Die frühe Neuzeit beginnt mit der Vertreibung der Juden aus den meisten Thüringer Territorien, und jüdisches Leben konzentrierte sich in der Folge auf die Dörfer südthüringischer Kleinterritorien. Mehrere Beiträge zeigen die regionalen Unterschiede ihrer Lebensbedingungen auf, und wie sie unter den schwierigen Bedingungen des Bauernkriegs und des 30-jährigen Kriegs ihre Handlungsmöglichkeiten ausloteten. Einen neuen Aufschwung erlebte jüdisches Leben seit dem 18. Jahrhundert. Dies hing eng mit dem Auftreten von zusammen, deren Wirken am Beispiel der Weimarer Hofjudenfamilie Elkan dargestellt wird.

19. und frühes 20. Jahrhundert waren auch in Thüringen durch Emanzipation, ökonomischen und Antisemitismus geprägt. Der Beitrag einzelner jüdischer Familien und Personen zur ökonomischen, sozialen und politischen Geschichte Thüringens gehen mehrere Beiträge nach, die sich leider den traditionellen Bahnen der Geschichte großer Männer folgen. Hier wäre eine Kollektivbiographie zielführender gewesen. Einen wichtigen Beitrag zum Leben der einfachen jüdischen Bevölkerung liefert hingegen der Aufsatz zu Juden und Jüdinnen in der Thüringer Arbeiterbewegung.

Der im Kaiserreich und in der Weimarer Republik wiederauflebende Antisemitismus mündete in der Auslöschung jüdischen Lebens in der NS-Zeit, für das auch das Konzentrationslager Buchenwald eine wichtige Rolle spielte. Zwei Drittel der 5000 in Thüringen lebenden Personen jüdischen Glaubens sind aus dem Land geflohen, fast alle anderen wurden von den Nazis ermordet. Ein für Thüringen gut erforschter Aspekt antisemitischer Verfolgung ist die nationalsozialistische Arisierungspolitik, die am Beispiel Arnstadts plastisch dargestellt wird.

Der Umgang mit den NS-Verbrechen bildet den Themenschwerpunkt der Beiträge zur Nachkriegszeit. Das Thüringer Wiedergutmachungsgesetz von 1945 hätte Vorbildcharakter für ganz Deutschland haben können. Seine positive Wirkung beschränkte sich aber auf wenige Jahre, denn die Politik der sowjetischen Besatzungsmacht und der DDR-Regierung konterkarieren deren Ziel. Die Restitution jüdischen Erbes bildet auch den Hintergrund der Provenienzforschung, die Thüringer Museen seit Kurzem immer intensiver betreiben.

Neben den Ergebnissen neuerer historischer Forschung und innovative Forschungsansätzen zeigt der Sammelband auch die Lücken der Forschung, wie das Fehlen eines Beitrags zur jüdischen Geschichte in Thüringen nach 1945 zeigt. Der Band belegt den kulturellen, politischen und ökonomischen Beitrag der jüdischen Bevölkerung zur Geschichte Thüringens. Dies zeigt, dass jüdische Geschichte in Zukunft als ganz normaler Teil der allgemeinen Geschichte eines Landes konzipiert werden sollte, und nicht mehr als nur als gesonderte deutsch-jüdische Geschichte. Hierfür liefert der Sammelband viele Anregungen.