Täter von Grafeneck
Vier Ärzte als Angeklagte im Tübinger "Euthanasie"-Prozess 1949

Mit dem Fund von 30.000 Krankenakten aus der NS-Zeit in der ehemaligen Berliner Stasizentrale Anfang der 1990er Jahre und der anschließenden Analyse erhielt die Erforschung der Euthanasieverbrechen neuen Aufschwung. Der Fokus der in Folge der Funde erschienenen Arbeiten lag hauptsächlich auf den Opfern der Euthanasie und der Analyse und Darstellung der Selektionskriterien sowie dem Ablauf der Tötungsaktionen. Verena Christ liefert mit ihrer 2020 erschienen Studie „Täter von Grafeneck. Vier Ärzte als Angeklagte im Tübinger ‚Euthanasie‘-Prozess 1949“ nun einen Beitrag, der sich neben drei Tätern auch einer Täterin der Krankenmorde widmet. Mit der dem Buche zugrundeliegenden Arbeit promovierte die Autorin 2017 erfolgreich am Institut für Ethik und Geschichte im Fach Medizin an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Verena Christ befasst sich in ihrem gut 200-seitigen Werk mit den Hauptpersonen des Grafeneck-Prozesses von 1949. Daraus lassen sich das Auswahlkriterium und ein wesentlicher Quellenbestand ihrer Arbeit ableiten: Die Autorin beschränkt sich auf diese vier Personen als Akteure des Krankenmordes, weil sie als Angehörige der gleichen Berufsgruppe in einem Gerichtsverfahren angeklagt und teilweise verurteilt wurden. In ihrer Darstellung der vier Personen wertet die Studie akribisch die Prozessakten aus dem Staatsarchiv Sigmaringen aus. Durch das Hinzuziehen von Berichten aus Zeitungsarchiven und der Auswertung der Spruchkammerakten der Beteiligten begegnet die Autorin der Gefahr einer einseitigen Darstellung der Geschehnisse. Bei der grundsätzlichen Darstellung der Abläufe des Krankenmords und deren Einordnung greift die Autorin auf die einschlägigen Untersuchungen zum Thema Krankenmord zurück.

Als Selbstverständnis ihres Beitrages zur Täter:innenforschung formuliert die Autorin das Anliegen zu untersuchen, ob sich ein Täter-Typus aus dem Handeln und Motiven der Angeklagten im Grafeneck-Prozess herauskristallisieren lasse. Ein Hauptaugenmerk des Versuchs einer Typisierung liegt dabei auf Entscheidungssituationen in den Biographien der Ärzte, in denen sie individuell ihr Handeln reflektieren mussten. In der Analyse versucht die Studie dabei einerseits die Gemeinsamkeiten im Handeln herauszuarbeiten, ohne dabei aber andererseits die Heterogenität der einzelnen untersuchten Personen aus dem Blick zu verlieren.

Einen großen Teil der Untersuchung nimmt so die Auseinandersetzung mit den vier Angeklagten ein. Nach einem kurzen Abrisse über die Organisation der NS-Euthanasie und den Weg zum Grafeneck-Prozess folgt die Darstellung der vier im Fokus stehenden Personen immer dem gleichen Schema. Nach einer anfänglichen Darstellung der Anklage im Grafeneck-Prozess wird die Biographie und die ideologische und geistige Prägung des Arztes bzw. der Ärztin dargestellt. Anschließend folgt die Schilderung des Verhaltens und der Verteidigungsstrategie der Angeklagten im Grafeneck-Prozess in Tübingen. Die Einzelkapitel zu den Angeklagten schließen jeweils mit der Formulierung von Gründen für die Beteiligung der Personen am Krankenmord.

Alfons Stegmann, der erste der vier untersuchten Ärzte, wird als Mediziner einer jungen Kriegsgeneration dargestellt, die zu jung war, um selbst am Kriegsgeschehen im Ersten Weltkrieg mitzuwirken und daraus einen gesteigerten Tatendrang entwickelte. Bei Stegmann habe sich dies in der aktiven Umsetzung der rassenhygienischen Überzeugungen geäußert, die im Zusammenspiel mit seiner Überforderung als junger Anstaltsarzt keinen Raum für einen medizinischen Heilungsethos gelassen haben (S. 66).

Die Auseinandersetzung mit Martha Fauser, der einzigen Ärztin in der Untersuchung, weicht geringfügig vom dargestellten Schema ab. Neben der Darstellung ihrer Beteiligung an der Euthanasie wird in einem eigenen Abschnitt ihre Verwicklung in die Behandlung von forensischen Patienten behandelt (S. 95f.). Auch bei Fauser wird ihre Zugehörigkeit zur Kriegsgeneration als prägend für die Entwicklung zur Beteiligten am Krankenmord angenommen. Als Hilfsschwester sei sie dem Elend auch fernab der Front ausgesetzt gewesen und habe dort ihre abwertende Haltung zu chronisch Kranken entwickelt (S. 102). Fauser habe in der Ausbildung eine Begeisterung für die eugenischen Ideen und die nationalsozialistische Gesundheitspolitik entwickelt, die sich als Unterordnung des Einzelwohls des Patienten unter das Wohl des „Volkskörpers“ in ihrer bewussten Beteiligung am Krankenmord geäußert habe.

Als einzig freigesprochener Angeklagter im Grafeneck-Prozess wird bei Max Eyrich seine rassenhygienische Überzeugung dargestellt. Zwar habe er die Euthanasie in Form der Umsetzung der T4-Aktion abgelehnt, allerdings nicht grundsätzlich, sondern nur wegen der fehlenden organisatorischen und rechtlichen Grundlage. Die Aussonderung von als „nutzlos“ angesehenen Patienten habe für ihn aber kein grundsätzliches Problem dargestellt. Entgegen seiner Bezeichnung als „Widerstandskämpfer im Dienst“ durch den Staatsanwalt habe Eyrich, geprägt durch die Kriegserfahrung und den Siegeszug der Eugenik an deutschen Universitäten, bewusst an der Umsetzung des NS-Gesundheitssystem mitgewirkt und dieses als Landesjugendarzt umgesetzt, auch wenn er Vorbehalte zum konkreten Vollzug der Euthanasie hatte. Er könne so nicht nur als Mitläufer bezeichnet werden, sondern sei „Motor“ der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gewesen. (S. 138)

Als viertes widmet sich die Studie dem Mediziner Otto Mauthe, der als Beamter im württembergischen Innenministerium die Organisation der Krankenmorde mitverantwortete. Auch wenn eine lange Liste von Zeitzeugen ihm eine ideologische Distanz zum Nationalsozialismus bescheinigten, sei seine Beteiligung an den Krankenmorden nicht von der Hand zu weisen. Mauthe sei zwar kein Überzeugungstäter gewesen, habe aber auf Grund von Eigennutz und Ängstlichkeit den Krankenmorden nicht entgegengewirkt. Er selbst habe im Gerichtsverfahren einen übersteigerten Obrigkeitsgehorsam und die Angst um das eigene Leben als Grund für das Mitwirken an der T4-Aktion stark gemacht.

Wurden im Hauptteil die Beteiligung der Hauptpersonen an den Euthanasiemorden und ihre Verteidigungsversuche vor Gericht in Augenschein genommen und versucht, Gründe für dieses Handeln herauszuarbeiten, widmet sich das folgende Kapitel dem Verhandlungsverlauf und der Aufnahme des Urteils durch die Beteiligten. Anschließend stellt die Autorin dar, welchen Weg die Beteiligten nach der Urteilsfindung gingen. Besonders in Hinblick auf die Spruchkammerverfahren, die in den Jahren nach dem Grafeneck-Prozess stattfanden, wird herausgearbeitet, was für einen Einfluss die relativ milden Urteile auf das weitere Geschehen hatten. Keiner der an den Krankenmorden beteiligten Ärzte wurde nach dem Grafeneck-Prozess in einem Spruchkammerverfahren für schuldig befunden.

Im Resümee greift Christ die im Vorwort aufgeworfene Frage auf, ob aus den untersuchten Quellen ein Tätertypus des Euthanasiearztes gefasst werden könne. Die Autorin zieht für eine erste Einordnung der einzelnen Beteiligten unterschiedliche Modelle von Tätertypen aus der Holocaustforschung heran und kommt zum Schluss, dass ein einheitlicher Typus nicht konstruiert werden könne. Gleichwohl können den Angeklagten gemeinsam zu Grunde liegenden Motive herausgearbeitet werden: Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges (S. 213), der zunehmende Einfluss der Eugenik in Deutschland (S. 215) sowie der Minderwertigkeitskomplex der Anstaltspsychiatrie (S. 217) nennt die Autorin als Hintergrund bei allen Beteiligten. Diese Motivlage könne in Zusammenhang mit anderen Faktoren die Beteiligung an den Krankenmorden aufschlüsseln, auch wenn die Autorin konstatiert, dass die „Beteiligung am Massenmord schwer zu begreifen“ bliebe (S. 213).

Verena Christ legt mit ihrer Studie einen lesenswerten Beitrag zur NS-Täter:innenforschung vor. Besonders im Hinblick auf die Täter:innen der Euthanasieaktion wird hier eine Forschungslücke geschlossen, die bislang wenig Beachtung fand. Zu den Stärken der Studie zählt die klar strukturierte und gewissenhafte Auseinandersetzung mit den Biografien der Täter:innen, die neben den Gerichtsakten weiteres Archivmaterial hinzuzieht und so einen recht umfassenden Blick auf die Beweggründe und Motivationen der am Krankenmord Beteiligten zu werfen versucht. Bei der Wiedergabe des Forschungsstandes bleibt die Autorin aber hinter dieser Sorgfalt zurück. Die 2017 als Dissertation eingereichte Arbeit wurde für die Veröffentlichung 2020 nicht um neu erschienene Literatur ergänzt und zieht nicht alle für das Thema wichtigen Beiträge in Betracht.

Inhaltlich ist neben dem selbst gesetzten Forschungsziel die Darstellung der Auswirkung der Grafeneck-Prozesse auf die Spruchkammerverfahren und die Analyse der Verteidigungsstrategien der Angeklagten ein echter Mehrwert für die Euthanasieforschung. Wenig einleuchtend scheint dagegen die Herleitung der eigentlichen Forschungsfrage nach einem Tätertypus des Euthanasiearztes. Der Versuch, diese Forschungsfrage aus dem Quellematerial zu destillieren, überzeugt wenig und wird nur mit einem Hinweis auf den Ursprung in den Ansätzen der Täter:innenforschung unterstützt. Die Schlussfolgerungen, dass kein einfacher Tätertypus des Euthanasiearztes herausgearbeitet werden könne, ist allerdings wieder überzeugend und wird durch die Darstellung mehrerer gemeinsamer Einflussfaktoren gut ergänzt.

Auf sprachlicher Ebene ist eine Inkonsequenz gerade angesichts des selbst erhobenen Anspruches bemerkenswert: Die Autorin stellt im Vorwort fest, dass die Aufarbeitung der NS-Verbrechern lange nur männliche Täter fokussierte. Sie selbst widmet sich dann mit Martha Fauser intensiv einer Täterin der NS-Euthanasie, verwendet aber schon im Titel der Arbeit nur das generische Maskulinum. Angesichts der immer noch nicht behobenen Schieflage in der Täter:innenforschung wäre hier eine höhere sprachliche Präzision wünschenswert gewesen.

Neben diesen in der Gesamtschau nicht allzu stark ins Gewicht fallenden Mängeln ist die Studie zu den „Tätern von Grafeneck“ eine bereichernde Ergänzung zur Erforschung der Entstehung und Durchführung der Krankenmorde.