Im Jahr 1935 veröffentlichte der damals noch wenig bekannte Lemberger Arzt und Mikrobiologe Ludwik Fleck (1896–1961) sein Buch mit dem Titel „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Eine Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv“, in dem er seine grundlegenden wissenschaftsphilosophischen und erkenntnistheoretischen Ideen dargelegte. Trotz einiger sehr positiver Kritiken fand das Werk Flecks zunächst nur einen geringen Leserkreis. Die spätere Rezeption seiner Gedanken, maßgeblich angestoßen durch das Buch des Wissenschaftsphilosophen Thomas Kuhn „The Structure of Scientific Revolutions“ (1962), ermöglichte interdisziplinäre wissenschaftliche Diskussionen weltweit. Flecks Überlegungen zum Charakter wissenschaftlicher Produktion, zur sozialen Konstitution des Wissens und zu der Bedeutung des sozialen Rahmens im Erkenntnisprozess erwiesen sich für verschiedene Fachbereiche als sehr produktiv.
Ein prominentes Beispiel für die Rezeption der Wissenstheorie Flecks stellt der besprochene Band „Denkstile in der deutschen Sprachwissenschaft“ dar. Die von Christiane Andersen (Göteborg) und Jürgen Schiewe (Greifswald/Freiburg) angeregte und von einer internationalen Forschergruppe konzipierte Publikation erschließt Flecks Ansatz als methodisches Instrumentarium zur Beschreibung und Analyse wichtiger Bausteine der neueren germanistischen Sprachwissenschaftsgeschichte.
Eröffnet wird der Band mit einem Vorwort der HerausgeberInnen sowie einem einführenden Beitrag über die „Erkenntnis als soziale Praxis“. Letzterer war als Ergebnis eines gemeinschaftlichen Forschungsaustausches am Institut für Deutsche Philologie der Universität Greifswald sowie am Institut für Sprachen und Literaturen der Universität Göteborg entstanden. Hier werden zunächst die zentralen Begriffe und die grundlegenden Prämissen des wissenschaftlichen Ansatzes von Fleck erläutert, allen voran die bekanntesten und wohl meistrezipierten Konzepte „Denkstil“ und „Denkkollektiv“, daneben auch andere, für die philologischen Analysen sich als relevant erweisenden Begriffe wie z.B. Beharrungstendenz, Denkstimmung, Präideen u.v.m. Im Anschluss daran bieten die Autoren eine Skizze darüber, wie „die Analyse geistes- und kulturwissenschaftlicher (und spezifisch sprachwissenschaftlicher) Erkenntnisbedingungen und -prozesse denkstilgemäß aussehen könnte“ (S. 13).
Den Kern des Bandes bilden insgesamt zehn Beiträge, deren AutorInnen Ludwik Flecks Wissenschaftstheorie nutzen, um die Entstehung, das Nebeneinander, die Überlagerung, aber auch die Ablösung verschiedener Denkstile in der germanistischen Sprachwissenschaft nach 1949 von internationaler Warte aus beleuchten.
Christiane Andersen (Göteborg) greift den Fleckschen Grundgedanken auf, dass die Entstehung wissenschaftlicher Tatsachen nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch soziologisch bedingt ist. Am Beispiel des „Begriffsgefüges“ Struktur in der strukturalen Sprachwissenschaft des Deutschen untersucht sie die Wechselwirkung von wissenschaftlichem Denkkollektiv und der Begriffsbildung im Erkenntnisprozess. Die Forscherin zeigt die Karriere des linguistischen Struktur-Begriffes auf, indem sie die Ost-Berliner Publikationen in der Reihe „Studia Grammatica“ aus den 1960er und 1970er Jahre sowie die „Vorschläge für eine strukturale Grammatik des Deutschen“ von Hugo Steger (1970) analysiert. Aufgrund ihrer Analyse kommt Andersen zum Schluss, dass die wissenschaftlichen Denkstile nicht zwingend an ein spezifisches Denkkollektiv gebunden sind, während die Zugehörigkeit zu bestimmten Denkkollektiven zumeist eine entscheidende soziologische Konstante für die Wissenschaftsentwicklung darstellt.
Magnus P. Ängsal (Göteborg) thematisiert den Denkstilwandel und Denkstilkontinuitäten in der linguistischen Geschlechterforschung seit den späten 1970er Jahren. Als Korpus dienen ihm „programmatische und synthetisierende Texte“ aus den Bereichen der Feministischen Linguistik und der Genderlinguistik, auf deren Basis sowohl Kontinuitäten der Denkstilentwicklung, als auch deutliche Veränderungen aufgezeigt werden. Zu den ersteren gehören das stete Interesse an den Relationen zwischen Sprache und Geschlecht, Genus und Gender sowie deutliche sprachkritische Ansätze. Einen Denkstilwandel sieht Ängsal hingegen darin, dass in der späteren Phase neue Wirklichkeitskonstruktionen in den Vordergrund gerückt sind, die mit der veränderten Sichtweise auf das Verhältnis von Sprache und Geschlecht einhergingen.
Waldemar Czachur (Warschau) beschäftigt sich mit dem kulturwissenschaftlichen Denkstil in der germanistischen Linguistik und schildert den mühsamen Prozess seiner Etablierung vor dem Hintergrund der Diskussionen über den Kulturbegriff, über das disziplinäre Verständnis von Linguistik sowie über ihre Theorie- und Methodenbildung.
Der Artikel von Philipp Dreesen (Zürich/Winterthur) hat die Rolle der „Skepsis“ als Grundstein der heutigen Diskurslinguistik zum Gegenstand. Dabei betrachtet er die Skepsis als eine besondere „Denkstimmung“ im Sinne Flecks, welche in der Genese der Diskurslinguistik von großer Bedeutung war: Speziell handelt es sich um das radikale Hinterfragen der „bis dato akzeptierten Prämissen und Praktiken“ (S. 168), Hinterfragen von Routinen und Gewissheiten im Prozess der wissenschaftlichen Arbeit.
Im Mittelpunkt des Beitrags von Ulla Fix (Leipzig) steht der „Denkstilwandel in der Textlinguistik“: Die Autorin zeichnet die Entwicklung der Textlinguistik in ihren „Hauptetappen“ nach und verfolgt, wie sich dabei die Auffassungen von Text als linguistischem Grundbegriff verändert haben. Jede dieser Etappen – so Fix – verfügte über eigene Denkkollektive: So war beispielsweise das im Bereich des strengen strukturalistischen Vorgehens agierende Denkkollektiv vom Ziel geleitet, exakte und streng formalisierte Beschreibungen von Texten durchzusetzen. Für die neueren Entwicklungen in der Textlinguistik konstatiert Ulla Fix die zunehmende Öffnung der sprachwissenschaftlichen Denkkollektive zur Gesellschaft hin als ein markantes Charakteristikum.
Nina Kalwa (Darmstadt) greift den von Fleck an mehreren Stellen angedeuteten Gedanken auf, dass es einen Zusammenhang zwischen der Sprache und dem Denkstil gibt. Ihre Analyse basiert auf der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung zwischen den feministischen Linguistinnen S. Trömel-Pötz und L. Pusch sowie dem Textlinguisten und Fremdsprachenforscher H. Kalverkämper. Von diesen Texten ausgehend, beleuchtet Kalwa, wie in einer wissenschaftlichen Kontroverse die Manifestationen von Denkstilen in Form von Präsuppositionen, Topoi etc. erfolgt, wie sie dadurch an die sprachliche Oberfläche treten und sich dann mit Hilfe linguistischer Instrumentarien erfassen lassen.
Den Gegenstand der Untersuchung Jana Kiesendahls (Greifswald) bilden Lehrerhandbücher für den muttersprachlichen Unterricht, welche zwischen 1960 und 1977 in der DDR und in der BRD erschienen sind und die nach Auffassung spezifische „denkstilgeprägte Merkmale“ aufweisen. Die sprachliche Analyse dieser Handbücher brachte das Ergebnis, dass in den beiden Denkkollektiven in der DDR und in der BRD gewisse Gemeinsamkeiten bestanden haben: Hinsichtlich der Methodik hatten die beiden die präskriptive sprachliche Norm vor Augen, wenn auch im Einzelnen mit unterschiedlicher Gewichtung. Daneben lassen sich auch Unterschiede feststellen: In der Lehrbuchwissenschaft der DDR etablierte sich seit Ende der 1950er Jahre die funktionale Sprachbetrachtung; in der Lehrbuchwissenschaft der Bundesrepublik setzte sich hingegen nach der „pragmatischen Wende“ der handlungs- und kommunikationstheoretische Ansatz durch.
Jürgen Schiewe (Greifswald) betrachtet das problematische Verhältnis von Sprachkritik und Linguistik in Deutschland der 1960er Jahre, welches er rückblickend als einen „misslungenen Versuch einer Ausgrenzung“ bezeichnet. Während in der frühen Phase der Sprachwissenschaft (von den Anfängen bis Ende des 18. Jahrhunderts) die beiden eine Symbiose darstellten, kam es im 19. Jahrhundert zu einem „Denkstilwandel“, nämlich zur Funktionsteilung. In der modernen Linguistik lässt sich hingegen von einer klaren Abgrenzung sprechen, da Sprachkritik als „unwissenschaftlich“ bewertet wird, während die Linguistik den Anspruch hat, die Sprache exakt wissenschaftlich zu erforschen.
Den Abschluss des besprochenen Bandes stellt eine Untersuchung von Barbara Zimmermann und Jürgen Spitzmüller (Wien) zur Entwicklungsgeschichte des Begriffes „Legasthenie“ dar. Für ihre Analyse machen sich die Autoren das Flecksche Konzept von Präideen (Urideen) zunutze, verstanden als „Richtlinien der Entwicklung einer Erkenntnis“, welche die Wahrnehmung des Forschenden leiten. Die Beschreibungen diese „Krankheitseinheit“ in den Arbeiten von Pal Ranschburg (1870-1945) wurde die Leseschwäche als Ausdruck der Rückständigkeit in der geistigen Entwicklung des Kindes betrachtet. Diese „Präidee“ prägten entsprechend den Denkstil, welcher in der Sprachwissenschaft praktisch über das ganze 20. Jahrhundert hinweg unverändert blieb: dass Orthografie an die Bildung und die Bildung an die Intelligenz gekoppelt sind. Erst in der jüngsten Zeit konnte diese Ansicht widerlegt werden.
Die Originalität des Buches liegt meines Erachtens darin, dass hier eine einheitliche theoretische Perspektive, die sich Flecks Konzeption zunutze macht, und die modernsten Darstellungen aus verschiedenen Teilbereichen der Sprachwissenschaftsgeschichte zusammengeführt werden. Zwar wurden Flecks Gedanken vor allem mit Blick auf die Laborforschung erarbeitet, dennoch zeigt uns der besprochene Band deutlich, dass diese auch für Geistes- und Kulturwissenschaften erfolgreich adaptiert werden können. Die Autoren konnten überzeugend aufzeigen, dass wissenschaftliche Sozialisation stets mit dem Ausüben bestimmter Sichtweisen verbunden ist, welche für dieses oder jenes „Denkkollektiv“ charakteristisch sind. Die größte Stärke dieses Buches besteht m.E. darin, dass es wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen von Experten aus unterschiedlichen Sprachspezialisierungen und -unterdisziplinen präsentiert. Dadurch wird dem Leser der Einblick in die theoretischen und methodischen Phänomene der germanistischen Sprachwissenschaft der letzten fünfzig Jahre geboten.
Last but noch least: Der Band ist durch ein umfangreiches Gesamtliteraturverzeichnis ergänzt, das nicht nur die zitierten Quellen dokumentiert, sondern auch eine wahre Fundgrube von Lektüre-Anregungen für Linguisten und Wissenschaftshistoriker mit ähnlichen Interessen darstellt.