Das literarische Leben der Mehrsprachigkeit
Methodische Erkundungen

Es ist eigentlich die Mehrsprachigkeit, die heutzutage den Normalfall darstellt. Weltweit leben wir Menschen in mehrsprachigen Gesellschaften und setzen uns unwillkürlich mit den unterschiedlichsten Kommunikationsformen auseinander: Sprachkontakte, Lernprozesse, Mediennutzung und Weltliteratur. Immer wieder gemachte Erfahrungen haben überdies feststellen lassen, dass die durch Mehrsprachigkeit entstandenen Sprachkontakte Einzelner oder von ganzen Gruppen eine sogenannte „subjektive Wirklichkeit“ generiert oder generieren kann, durch die Wandlungen in den unterschiedlichsten Bereichen entstehen können. Diese sind auf gesellschaftliche Verflechtungen zurückzuführen oder gar auf politischen Druck.

Unweigerlich kommen mit diesen Wandlungen auch linguistische Änderungen in Gang. Damit richten sich Fragen an die Forschung, die von höchstem Interesse sind, so an die linguistische Forschung, ob „sozial oder politisch schwächere Sprachformen nicht nur einen Gebrauchsrückgang“ hinnehmen, sondern sich auch „in ihrem linguistischen Wesen“ verändern. (Dominique Huck, Arlette Bothorel-Witz: Zur Mehrsprachigkeit im Elsaß. In: Praxis Interkultureller Germanistik. Forschung – Bildung – Politik. Beiträge zum II. Inter­nationalen Kongress der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik. Straßburg 1991. Hg. v. Bernd Thum und Gonthier-Louis Fink, S. 455f.).

Inwiefern ästhetische und formale Mittel hingegen Fragen nach dem Wesen der explizit mehrsprachigen Literatur klären, ist Ausgangspunkt und gedankliche Grundlage der Beiträge in der vorliegenden, von Till Dembeck und Anne Uhrmacher herausgegebenen Publikation über das literarische Leben in der Mehrsprachigkeit, das in mehreren Beiträgen methodisch erkundet wird. Der Einführung in die Thematik dient der Beitrag von Till Dembeck und Anne Uhrmacher (Erfahren oder erzeugt? - Zum literarischen Leben der Sprachdifferenz, 9-18). Er ist zugleich als Vorwort gedacht und kündigt die Vielfalt des Sammelbandes und deren methodische Ansätze an. Begleitet werden diese wissenschaftlichen Beiträge von Lautpoesie, von visueller Poesie und Videokunst der 1963 geborenen und in Düsseldorf aufgewachsenen Lyrikerin Heike Fiedler.

Wie üblich in einem Sammelband sind die 9 Beiträge zur Mehrsprachigkeit des literarischen Lebens aus unterschiedlichen Perspektiven zustande gekommen. Trotz fachpolitischer Tendenz des Bandes ist man sich einig: Mehrsprachigkeit in der Literatur ist kreativ, kunstvoll, erfinderisch, vielfältig und von Vorschriften befreit. Die unterschiedlichen literarischen Beispiele dieses Bandes versuchen Fragen zu beantworten, die „zeitlich vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichen.“ Fragen wie: Wo sind Sprachdifferenzen zu Hause? Wie sind sie im Leben verankert? Welche Rolle spielt Literatur dabei? Und wie reagiert eine Philologie der Mehrsprachigkeit auf die „Frage nach dem Leben der Sprachdifferenz“ bzw. auf die Frage der linguistischen Perspektive der Zwei- oder Mehrsprachigkeit, ganz speziell der lexikalischen Transferenz (von Form und Inhalt) und der semantischen Transferenz (von Bedeutungseinheiten). Wesentlich ist auch die Frage nach der Rolle des Sprachbewusstseins: Da der explizit mehrsprachigen Literatur der Schriftsprache stärkere Persistenz und Vergegenständlichung eigen ist, wird das Sprachbewusstsein, bzw. das explizite Wissen der Sprachbenutzer über ihre sowie über die Zweitsprache zur operativen Instanz. Lawrence A. Rosenwald, der den Band eröffnet, plädiert in seinem Beitrag „On Linguistic Accurancy“ für „eine Ethik der literarischen Mehrsprachigkeit“, die er in der Analyse dreier Texte entfaltet („Ein Sommer in der Woche der Itke K.“ von Jeannette Lander; „Improvisation on Yiddish“ von Robert Pinsky, und „Shall we have a little talk“ von Robert Sheckley). Rosenwald legt dabei sein Augenmerk auf die Bewertung literarischer Texte bzw. auf den kritischen Aspekt von Literaturwissenschaft. Angenommen, die Mehrsprachigkeit von Autoren ist durch ihre Biographie eingeschränkt. Umso mehr müsste eine Übertragung systemischen Zusammenwirkens in der Literatur stattfinden, meint Esther Kilchmann in ihrem Beitrag „Alles Dada oder: Mehrsprachigkeit ist Zirkulation der Zeichen!“ und äußert sich für eine Reform von „erlebter“ und „erzeugter“, „politisch“ und ästhetisch“ angeregter mehrsprachigen Literatur. Kilchmann spricht von einem Kreislauf der Zeichen in der mehrsprachigen Literatur, der nach den Regeln und Ordnungen der Literatur stattfindet, vergleichbar denen der Physik, in der bei Strömungen die Zirkulation ein Maß für die Wirbelstärke ist. „Dada“ ist folglich in mehreren Sprachen anzutreffen, obwohl er keiner bestimmten Sprache entstammt. Vielmehr war Dada eine „Geisteshaltung“; „Die Künstler und Schriftsteller, die sich zu Dada bekannten, wollten sich nicht festlegen auf das, was Kunst und Literatur sein sollten”. (Hanne Bergius, Kunsthistorikerin). Anhand einiger Beispiele - Lautpoesie - von M. Foucault, R. Huelsenbeck, M. Janko, T. Tzara zeigt Esther Kilchmann, dass in dadaistischen Texten nicht unterschieden wird zwischen Sprachen und Sprachsystemen. Aber welche Alternativen gibt es eigentlich, die zur Orientierung an nationalen Einheiten und an Einsprachigkeit der Philologie zur Verfügung stehen, fragt sich Till Dembeck von der Universität Luxemburg, indem er das Verhältnis zwischen der Literatur und der „gelebten Erfahrung“ anhand der Beispiele zweier Autoren ins Licht rückt: Friedrich Genthes Dissertation zur frühneuzeitlichen makkaronischen Poesie und Yoko Tawadas Interpretation von Gedichten des in eine deutschsprachige jüdische Familie hineingeborene Paul Celan. Tawada insinuiert, dass sich Celan nur mittels der japanischen Übersetzung verstehen ließe. Irina A. Dumitrescu widmet ihren wissenschaftlichen Beitrag den lateinisch-englischen Schulbüchern der Renaissance, die sich mit dem Schreiben und Sprechen des Lateinischen wie auch mit dem Alltagsleben der Frühen Neuzeit befasst. Anhand vieler Beispiele schildert sie Alltagssituationen zwischen wirklichem und gekünsteltem Leben.
Eugenia Kelbert fragt in ihrem Beitrag nach den Auswirkungen der Mehrsprachigkeit und ihrer gelebten Erfahrung. Sie geht von Joseph Brodsky aus, dessen englische Lyrik sich von seiner russischen, und seine Übersetzungen aus dem Russischen ins Englische und jene aus dem Englischen ins Russische unterscheiden. Kelbert untersucht Metrum, Reim und Syntax, um Details Brodskys besonders hervorzuheben. Caroline Mannweiler beschäftigt sich mit Samuel Beckett, welcher nebst Ionesco und Ungaretti zu den translingualen Literaten gehört. Als einzigartiger Jongleur des Englischen und Französischen bietet sein Werk Gesprächsstoff für erzeugte und erfahrene Sprachdifferenzen, die er als ästhetische Mittel einsetzt. Somit ließe sich sein Werk der avantgardistischen Kunst zuordnen. Die Sinnlosigkeit der Welt, die Fragwürdigkeit der Sprache sowie die Selbstentfremdung des Menschen hat er zielbewusst in dramatische Form umgesetzt. Dirk Weissmann zeigt in seinem Beitrag an Yoko Tawadas Text „Till“ einen ganz anderen Blickwinkel der Mehrsprachigkeit. Nämlich dass sich die Sprachen im Grunde gar nicht mischen. Anhand der Aufführung des Stücks von je einem deutschen und einem japanischen Ensemble wird dies bewiesen. Absicht und Ziel Tawadas ist, eine möglichst geringe Zahl von Zuschauern möge das Stück sprachlich verfolgen können. Weissmann konzentriert sich wesentlich auf den empfindsamen und vorausdenkenden Grundgedanken Tawadas: „Durch Gedanken, Mimik, Sprachklang oder Choreographie muss eine gemeinsame Welt auf der Bühne geschaffen werden. Für die Zuschauer, die nur eine der beiden Sprachen verstehen, bleibt ein Teil der Bühne ein Geheimnis, aber musikalische oder bildliche Zugänge zu dem Geheimnis müssen möglich sein.“ Anne Uhrmacher, Mitherausgeberin des Sammelbandes, verzahnt auf geistreicher Weise Mehrsprachigkeit mit der zeitgenössischen Popmusik, welche die Alltagssprache betont und prägt. Sie fährt zweigleisig. Zum einen betont sie den Einfluss dieser Verzahnung bei der Identitätsbildung bestimmter Zielgruppen. Zum anderen hebt sie die künstlerische Dimension dieser Verflechtung hervor und durchleuchtet mehrsprachige Liedtexte aus unterschiedlichen Jahrhunderten und deren Auswirkungen. Wenn Mozart seinerzeit bereits bildhafte Kanons schuf und sie mit mehrsprachigen Versen schmückte – einer z.B. wurde 1788 in Wien veröffentlicht –, so wird doch den heutigen Popmusikern keine Grenzen gesetzt. Authentische Sprache wie gespreizte, geschwollene, geschraubte Mischsprache, ja unglaubwürdiges und unverbürgtes Kauderwelsch – alles ist erlaubt.

„Das Leben ist mehrsprachig und Mehrsprachigkeit lebt“. Mit dieser wahrhaftigen Behauptung, die für manche sogar postulierend klingen mag, beginnt das Vorwort der beiden Herausgeber. Ich möchte damit schließen und die Gunst der Stunde nutzen; als normgerechte Sprecherin mehrerer Sprachen – die Vorteile der Mehrsprachigkeit bestätigend und einen solchen Zugang zu anderen Sprachen ermutigend – folgendes Postulat formulieren: Man möge – entgegen den Voraussetzungen, die uns das Leben bietet – nicht nur philologische Grundeinsichten von Kultur und Kommunikation ernst nehmen, sondern vielmehr und vor allem der mehrsprachigen Kreativität freien Lauf lassen.