Der Titel der Untersuchung des Literaturwissenschaftlers Sebastian Böhmer: „Zu einer Semantik von unten“ lässt auch Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler aufhorchen und verführt dazu einen Blick über den disziplinären ‚Tellerrand’ hinaus zu wagen.
Das vorliegende Werk kann grob in drei Teile gegliedert werden. Zunächst wird der Gegenpool der bereits im Titel genannten „Semantik von unten“, die sogenannte „Semantik von oben“ vorgestellt und kulturhistorisch in die Epoche der Aufklärung eingeordnet. Die „Semantik von oben“ zielt auf eine perfekte Repräsentation des Gedankens und damit der Wahrheit in der Schrift bzw. dem Geschriebenen. Dieser perfekten Übertragen können Hindernisse im Weg stehen und die folgenden Beispiele veranschaulichen, inwieweit unterschiedliche Schreiber/innen auf diese reagieren. So gelten Notate, Stenographie, der Füller, neue Drucklettern und das Diktieren als „Exempel der Effizienz“ (S. 35).
Im zweiten großen Teil behandelt der Autor den Grenzbereich der beiden „Semantiken“ und epochen-terminologisch gesprochen die Empfindsamkeit. Nicht mehr die reine Übertragung des Gedankens in die Schrift steht im Vordergrund, sondern der Schreibprozess an sich. Er zeigt dem Empfänger oder der Empfängerin, dass aneinander gedacht wurde (so sieht oder besser empfindet es beispielsweise Charlotte von Stein vgl. S. 107). Der Absender schreibt sich in den Text hinein und wird damit körperlich anwesend. Auch Körperzeichen wie Blut und Tränen im oder auf dem Material können die Nähe (trotz räumlicher Entfernung) zwischen Sender und Empfänger verdeutlichen. Die sinnliche Erfahrbarkeit rückt in den Mittelpunkt.
Der dritte und berechtigterweise längste Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit der „Semantik von unten“. Während Sinn bis dahin von oben gegeben und in der Schrift repräsentiert wurde, wird dieser nun durch das Schreiben selbst hergestellt. Lichtenberg äußert sich dazu sehr treffend, indem er sagt: „... daß Schreiben immer etwas erweckt was man vorher nicht deutlich erkannte, ob gleich es in uns lag“ (S. 186). Material und Körper erwecken in der Praxis des Schreibens Sinn. Damit verliert die Schrift ihre reine Abbildungsfunktion. In diesem Zusammenhang wird auch die Figur des „Schreibers zweiter Ordnung“ eingeführt. Es handelt sich dabei um einen Schreiber, der sein eigenes Schreiben in seiner konkreten Schreibsituation reflektiert.
Der Autor stützt in diesem dritten Teil seine Erläuterung zur „Semantik von unten“ auf diverse Beispiele aus der Literatur, kurz sei an dieser Stelle noch auf das Drama „Maria Stuart“ von Schiller hingewiesen, in dem die Konfrontation der „Semantik von unten“ und der „Semantik von oben“ besonders deutlich werden, da Elisabeth sich selbst und ihre Unterschrift als ein Phänomen der „Semantik von unten“ ansieht, ihre Angestellten und die sie umgebenden ihre Unterschrift im Sinne der „Semantik von oben“ interpretieren. Sie schreiben das Todesurteil als bewusste Tat Elisabeth zu und nehmen ihre Unterschrift als performativen Akt wahr.
Sebastian Böhmer erweitert in seiner Habilitationsschrift die gängige Terminologie. Während in der Sprachwissenschaft Semantik übersetzt als Bedeutungslehre bezeichnet wird und damit die Theorie und Wissenschaft der Bedeutung der Zeichen im engeren Sinne (lexikalische Semantik, Wortbildungssemantik, Satzsemantik uvm.) meint, begibt sich der Autor hier in ein Feld, das vielleicht als Schriftsemantik in einem weiteren Sinne bezeichnet werden kann. Semantik umfasst hier auch das Material und das Verhalten bzw. die Körperlichkeit der verschiedenen Schreiber und Schreiberinnen. Oft erinnern die Erklärungen auch an den sprachwissenschaftlichen Bereich der Pragmatik. Beispielsweise führen die im ersten Teil genannten Hindernisse beim Festhalten der Wahrheit in der Schrift zu unterschiedlichen Handlungen (z.B. Erfindung von Hilfsmitteln).
Von Charles W. Morris (1938) wurde die klassische Dreiteilung in Syntax, Semantik und Pragmatik entwickelt. Syntax sollte die Beziehungen zwischen den Zeichen darstellen, Semantik die Beziehungen zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung und Pragmatik die Beziehung zwischen dem Zeichen und seinem Benutzer. Es scheint so als sei in dem hier vorliegenden Band der Bereich der Semantik um den Benutzer erweitert worden.
Hinzuweisen ist weiterhin, wie der Autor selbst anmerkt, auf die etwas Goethe-lastige Argumentationsgrundlage der Theorie. Das Bemühen auch Texte anderer Autoren und Autorinnen zu Rate zu ziehen, ist vorhanden, etwas mehr Vielfalt wäre sicherlich wünschenswert gewesen.
Abschließend sei nochmals betont, dass es sich bei dem vorliegenden Buch, um ein Werk handelt, das versucht auf hohem wissenschaftlichem Niveau und durch zahlreiche Beispiele illustriert eine neue schlüssig dargelegte Terminologie bzw. einen anderen Interpretationsansatz einzuführen. Bleibt die Frage, ob sich „Semantik von oben“ und „Semantik von unten“ als feststehende Ausdrücke in der Literaturwissenschaft etablieren werden.