Umsiedlung, Vertreibung, Wiedergewinnung? Postkoloniale Perspektiven auf deutsche, polnische und tschechische Literatur über den erzwungenen Bevölkerungstransfer der Jahre 1944 bis 1950
GERMANOSLAVICA. Zeitschrift für germano-slawische Studien 2017/1-2

Der als Themenheft der Zeitschrift „Germanoslavica“ erschienene Band versammelt (nach einem Vorwort des Gastherausgebers) insgesamt elf teilweise aus dem Polnischen übersetzte Beiträge, die ganz überwiegend auch der polnischen Literatur gewidmet und in stimmiger Weise in fünf größere thematische Blöcke gegliedert sind. Den Analysen der Texte vorgeschaltet ist zunächst eine „Historische und methodische Hinführung“, in der Thomas Wünsch und nochmals der Herausgeber schlüssig die besonders den Postcolonial Studies geschuldeten Prämissen der Beiträge umreißen. Diese Hinführung scheint insgesamt durchaus gelungen, auch wenn die von Wünsch dargestellte Ideologie der Vertreibung im tschechischen Diskurs nach dem Ersten Weltkrieg letztlich nur zu einem einzigen der folgenden Beiträge (zu jenem von Gertraude Zand) hinführt und die von Uffelmann überaus konzise präsentierten postkolonialen Ansätze nicht in allen Beiträgen auch konkret umgesetzt werden.

Der darauffolgende thematische Block versammelt „Komparative Perspektiven“ von Stefan Chwin und Jürgen Joachimsthaler, die vergleichend polnisches wie deutsches Textmaterial zu den Bevölkerungstransfers untersuchen und den darin vorhandenen verschiedenen textuellen Verarbeitungsmustern nachspüren. Chwin taucht in dem Band dabei in gleich zweifacher Funktion auf – einmal als Verfasser des insgesamt längsten, brillant geschriebenen Beitrags, daneben aber auch als Autor von Romanen wie etwa „Hanemann“, die neben den Prosaarbeiten von Paweł Huelle dann auch in den beiden folgenden, unter dem Signum „Lokaler Perspektiven“ zusammengestellten Beiträgen von Peter Oliver Loew und Mieczysław Dąbrowski besondere Beachtung finden: Mit Günther Grass’ „Danziger Trilogie“ als zentraler Vergleichsgröße untersuchen Loew und Dąbrowski hier die postkolonialen As­pekte einer plurikulturellen Danziger Stadtliteratur und deren wechselnde Muster diskursiven Ein- und Ausschlusses, die von Loew als „Hinein- und Herauserzählen“ stimmig auf den Punkt gebracht werden.

Die „(Post-)Sozialistischen Perspektiven“ werden danach mit dem einzigen bohemistischen Beitrag des Bandes eröffnet: Gertraude Zand untersucht darin in zwar knapper, aber dennoch präziser Weise Václav Řezáčs der Poetik der Sozialistischen Realismus unterliegenden Roman „Bitva“ [Die Schlacht] und dessen Darstellung der tschechischen, nach sowjetischen Mustern erfolgenden Kolonialisierung des Sudentenlandes nach der erzwungenen Aussiedlung der Deutschen. Wenig überzeugend (da relativ essayistisch und sprunghaft gehalten) fällt dagegen Elke Mehnerts vergleichende Gegenüberstellung der beiden ober­schlesischen Autoren Werner Heiduczek und Peter Horst Neumann aus. Im Gegensatz dazu veranschaulicht Dariusz Skórczewki schlüssig die analytischen Möglichkeiten der Postcolonial Studies auch im Umgang mit literarischen Gebrauchsformen, hier konkret mit der überaus langlebigen wie erfolgreichen polnischen Jugendbuchserie „Pan Samochodzik“ [Herr Mini-Auto].

Zwei weitere, zu „(Post-)Nationalistischen Perspektiven“ zusammengezogene Beiträge be­schließen den Band: Natalia Lemann veranschaulicht zunächst, wie der polnische Piasten-Roman im Rückgriff auf die mittelalterliche polnische Geschichte im Einklang mit der staatlichen Politik die polnische Vergangenheit der wiedergewonnenen Gebiete im Westen Polens konstruierte. Lemann berücksichtigt hier ein breit gestreutes Textkorpus, während sich Alois Woldan primär auf den Roman „Repatrianci“ [Die Repatriierten] von Stanisław Srokowski und den über diesen Text generierten polnisch-ukrainischen Erinnerungsdiskurs konzentriert. Mit diesem Aspekt schließt eine überaus beachtliche Veröffentlichung, die Literatur gerade unter postkolonialen Prämissen auch als Motor gesellschaftlicher Diskussionen ausweist.