Geschichtsverarbeitung als kulturelle Selbstreflexion
Untersuchung ausgewählter postkolonialer Gegenwartsromane der anglophonen Karibik

Desiderata abgearbeitet

Vor allem in postkolonialen Literaturen ist seit geraumer Zeit eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe sowie eine zunehmend kritische Reflexion der Möglichkeiten retrospektiver Sinnbildung zu verzeichnen. Obgleich das Thema Geschichtsaneignung und seine Bedeutung für die Konstitution selbstbestimmter Identitäten zu den zentralen Fragen der Literatur- und Kulturwissenschaft gehören, mangelt es bislang an Studien, die sich systematisch mit Besonderheiten und Funktionen der Vergangenheitsdarstellung in postkolonialen Romanen auseinandersetzen. Ulrike Erichsens theoretisch äußerst fundierte Arbeit erfüllt daher – ganz im Sinne der wiederholt erhobenen Forderung nach einer Öffnung der Literaturwissenschaft hin zur Kulturwissenschaft – gleich mehrere Desiderata. Erstens problematisiert sie das oftmals zum inhaltsleeren Sammelbegriff ausgeweitete Konzept des Postkolonialismus und verortet es konzise im Rahmen übergeordneter, postmoderner sowie poststrukturalistischer Theorien. Zweitens analysiert die Verfasserin den komplexen Zusammenhang zwischen Identität und Geschichtsverarbeitung und stellt deren eminente Bedeutung für kulturell marginalisierte Gruppen heraus. Damit illustriert die Studie drittens, daß gerade das Medium Fiktion wichtige orientierungsbildende Funktionen für postkoloniale Erinnerungskulturen übernehmen kann, nämlich das durch die Kolonialisierung entstandene “Vakuum an Identitäts- und Geschichtsbewußtsein” kreativ zu füllen. Und schließlich, viertens, situiert die Autorin die untersuchten Gegenwartsromane sowohl im Kontext der Kolonial- als auch der Literaturgeschichte der anglophonen Karibik. Hiermit trägt Erichsen der Einsicht Rechnung, daß Literatur – trotz fiktionaler Gestaltungsräume – an ihren kulturellen Entstehungskontext gebunden ist und so auch bislang vergessene Aspekte der Kollektivvergangenheit “zum Gegenstand historischer Reflexion” machen kann. Die spezifische Leistung von Erichsens Theorieentwurf besteht darin, daß die komplexen Wechselwirkungen zwischen den drei – in der gegenwärtigen Forschung fast unüberschaubaren – Themenkomplexen Identität, Geschichtsverarbeitung und Postkolonialismus nie aus dem Blick zu geraten drohen. Zu Recht betont die Verfasserin daher, daß Identität unter postkolonialen Bedingungen vor allem zu einem Problem der Vergangenheitsbewältigung wird, bei dem es darum geht, sich der durch die Kolonisatoren aufgezwungenen Fremdzuschreibungen zu entledigen und aus der Wiedergewinnung der eigenen Geschichte(n) “neue Identitätskonzepte abzuleiten” . Ausgehend von der Einsicht, daß Literatur als produktives Medium der Sinnstiftung “neue Erfahrungswelten erschließen kann”, interpretiert die Autorin in den folgenden Kapiteln ausführlich sechs ausgewählte Romane von Lawrence Scott, Caryl Phillips und Erna Brodber. Ohne Gefahr zu laufen, die Erzähltexte lediglich als Abbild des entwickelten Theoriedesigns erscheinen zu lassen, illustrieren die kenntnisreichen Interpretationen den je spezifischen Beitrag, den die Romane zur kulturellen Selbstreflexion sowie zur (Re-)Konstitution der durch den Kolonialismus beschädigten karibischen Identität leisten. Mit Blick auf das hervorgehobene Leistungsvermögen der fiktionalen Geschichtsschreibung könnten die Romananalysen allerdings von einer stärkeren Berücksichtigung der genuin literarische Darstellungsverfahren, die an der Inszenierung von Vergangenem beteiligt sind, profitieren. Nichtsdestoweniger handelt es sich um eine theoretisch und interpretatorisch gehaltvolle Studie, die wichtige Anregungen für die Beschäftigung mit literarischen Vergangenheits- und Identitätsentwürfen bietet.