Es gehört zu den Besonderheiten der italienischen Literatursprache, daß sie schon sehr früh ihr bis heute mehr oder weniger verbindliches linguistisches Gepräge erhalten hat, und zwar durch drei modellbildende Dichter aus dem 14. Jahrhundert, durch die sogenannten “tre corone” Dante, Petrarca und Boccaccio. Diesem Sachverhalt ist es zu verdanken, daß das italienische Lesepublikum einen direkten sprachlichen Zugang zum mittelalterlichen Teil seiner nationalliterarischen Tradition hat, daß es also, anders als etwa das französische oder das deutsche, zum Verständnis der entsprechenden Quellen nicht auf Übersetzungen und auch nicht auf ausführliche philologische Erläuterungen angewiesen ist. Die kanonische Geltung der drei genannten Trecento-Autoren hat aber auch dazu geführt, daß der italienischen Literatur aus dem Zeitraum vor 1300 allenfalls eine gleichsam prähistorische Bedeutung zuerkannt wurde. In diesem Zeitraum blüht nämlich die volkssprachliche Dichtung Italiens noch nicht aus eigener Kraft, sondern sie lebt fast ausschließlich von den Anregungen, die sie aus anderen romanischen Kulturräumen empfängt: aus demjenigen der langue d’oïl und aus dem der langue d’oc. Der Hamburger Romanist Heinz Willi Wittschier hat nun eine Monographie vorgelegt, mit der er diese archaische Phase der italienischen Literatur einer breiteren – vor allem auch studentischen – Leserschaft in ausführlicher Weise vor Augen führen will. Die von ihm vorgenommene inhaltliche Gliederung weicht in chronologischer Hinsicht von der literarhistorischen Sachlage ab: Die Lyrik der sizilianischen Dichterschule, die seit etwa 1230 nachgewiesen ist und somit als frühestes Beispiel volkssprachlicher Dichtung auf italienischem Territorium zu gelten hat, erscheint bei ihm erst im sechsten Kapitel. Dafür rückt er zwei andere Werke, deren Entstehung auf den Zeitraum zwischen 1280 und 1300 zu datieren ist, an den Anfang seiner Darstellung, wohl weil er glaubt, daß sie für das von ihm intendierte Publikum besonders attraktiv sein müßten: Das eine dieser beiden Werke ist eine Schilderung der Asienreise des venezianischen Kaufmanns Marco Polo, die diesem selbst zugeschrieben wird und für die sich der Titel Milione eingebürgert hat. Und das andere ist der sogenannte Novellino, eine Sammlung von einhundert\100 kurzen Novellen, die dem Florentiner Boccaccio als Vorbild für sein berühmtes Decameron gedient haben dürfte. Zwei weitere Kapitel zur italienischen Prosa des 13. Jahrhunderts schließen sich an, eines zur – überwiegend historiographischen – Sachprosa und eines zu den auf die Volkssprache bezogenen artes ditandi sowie zu den volgarizzamenti, von denen das Duecento nicht wenige hervorgebracht hat. Danach wird die lehrhafte Versdichtung eines Brunetto Latini und anderer behandelt, bevor sich der Autor der religiösen Lyrik zuwendet, wobei er dem sogenannten Sonnengesang des Franziskus von Assisi die Aufmerksamkeit schenkt, welche dieses früheste Meisterwerk der italienischen Literatur für sich beanspruchen darf. Der komischen bzw. der satirisch engagierten Lyrik der Cecco Angiolieri und Rustico di Filippo bzw. eines Guittone di Arezzo sind die beiden folgenden Kapitel gewidmet. Den Abschluß bildet die Präsentation von Dantes Vita nuova, einem narrativen Prosimetrum, das als frühestes Werk des Florentiners gilt. Wittschier interpretiert diese Dichtung als Fortsetzung und synthetisierende Übersteigerung der vorgängigen italienischen Lyrik, vor allem auch insofern, als Dante den Erzählinhalt des Werks durch eine kommentierend dichtungsanalytische Komponente anreichere. Damit sei die Vita nuova ein Indiz dafür, daß der Dichter es am Ende des Jahrhunderts verstanden habe, aus einem Bewußtsein für die Ästhetizität der volkssprachlichen Literatur, wie es bei den Sizilianern noch kaum vorhanden gewesen sei, ein ganz neuartiges Selbstbewußtsein als literarisch souveräner Autor abzuleiten. Dieses Selbstbewußtsein war, so ist dem Argumentationsgang zu entnehmen, die Voraussetzung dafür, daß Dante mit seiner Divina Commedia zum eigentlichen Begründer der italienischen Literatursprache werden konnte.
Mit dem Kapitel zur Vita nuova führt Wittschier seine Darstellung zum Abschluß. Der italienische Nationaldichter ist also in der hier zu rezensierenden Publikation nur mit seinem frühesten Werk vertreten. Eine solcherart unvollständige Behandlung mutet seltsam an. Andererseits sprechen gewichtige sachliche Gründe dafür, sich im Rahmen einer literarhistorischen Darstellung des Duecento auf die Vita nuova zu beschränken und die übrigen Dichtungen des Florentiners außer Acht zu lassen. Denn vor allem durch die Gedichte, die in diesem Prosimetrum zusammengefaßt sind und die noch ganz den Geist des Dolce stil novo atmen, zeigt sich Dante als Kind des 13. Jahrhunderts. Umgekehrt weist er jedoch mit seinem ausgeprägten literarischen Gestaltungswillen, der sich besonders auch in der bedeutungsträchtigen Architektur der Vita nuova niederschlägt, über die einleitende Phase der italienischen Literaturgeschichte weit hinaus. Für Wittschier kündigen sich in diesem streng durchkomponierten Werk die großen dichterischen Summen des italienischen Trecento an, Dantes Divina Commedia ebenso wie Petrarcas Canzoniere und Boccaccios Decameron. Hier wird eine interpretatorische Leitidee spürbar, die den gedanklichen Zugriff auf die Quellen auch in den anderen Kapiteln der Monographie bestimmt. Dem Autor dieser Monographie scheint es wichtig zu sein, das Duecento literarhistorisch an die späteren Epochen der italienischen Literaturgeschichte anzubinden. Offenbar will er dem Eindruck entgegenwirken, die volkssprachliche Literatur Italiens sei zu Beginn durch und durch archaisch und hätte insofern mit dem Zeitalter der Tre corone nichts zu tun. Andererseits ist seiner Darstellung durchaus zu entnehmen, daß die extrem formalisierte Lyrik etwa der Sizilianer die durch Hans Robert Jauss eingebrachte These von der Alterität der mittelalterlichen Literatur geradezu idealtypisch belegt. Mit seiner Publikation dürfte es Heinz Willi Wittschier gelingen, das von ihm intendierte studentische Publikum auf den in ästhetischer und anthropologischer Hinsicht völlig fremden Horizont des italienischen Duecento einzustimmen. Dabei ist ihm hoch anzurechnen, daß ihn der hochschuldidaktische Impetus, von dem er ganz offensichtlich bewegt ist, nicht dazu verführt hat, seinem mediävistischen Gegenstand Gewalt anzutun.