Europäisches Verfassungsrecht
Theoretische und dogmatische Grundzüge

„Wir wollen sein ein...“ geeintes Europa

Der vom Europäischen Konvent vorgelegte „Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa“ hat die Debatte, ob von einer Verfassung Europas gesprochen werden kann, in neuer Weise entfacht. Die Anforderungen, die der traditionelle Verfassungsbegriff erhebt, sind im supranationalen Kontext bislang (noch) nicht erfüllt. Im Wege einer funktionalen Betrachtung indes, die in der Wissenschaft seit einigen Jahren unternommen wird, öffnet sich der Blick dafür, das unionale Primärrecht als Europäisches Verfassungsrecht und Teilverfassung im europäischen Verfassungsraum anzusprechen und zu begreifen. Im Horizont dieser Debatte bietet der von dem Heidelberger Europa- und Völkerrechtler Armin von Bogdandy herausgegebene Sammelband eine ebenso aktuelle wie kompakte und tiefschürfende Zusammenführung der Grundlagen und Grundfragen des Europäischen Unionsrechts. Wer im Europarecht auf dem Stand von Wissenschaft und Praxis sein will, findet in dem Buch – das sei vorweg gesagt – ein hervorragendes und unerläßliches Kompendium.

Ein erster Teil widmet sich den theoretischen und dogmatischen Grundzügen des „europäischen Verfassungsrechts“. Am Beginn steht die Erörterung eben jener Frage nach der Verfassungsfähigkeit Europas: Christoph Möllers setzt die Begrifflichkeiten der „verfassunggebenden Gewalt“, der „Verfassung“ und der „Konstitutionalisierung“ in historischem und europäischem Kontext auseinander und beschreibt das Europäische Verfassungsrecht als ein eigengeartetes Rechtsgebiet. Eine etwas andere Akzentuierung weist insofern der Beitrag von Ulrich Haltern über „Gestalt und Finalität“ auf, der den ersten Teil gleichsam verklammernd beschließt. Er gipfelt in der These, daß das Potential eines verfaßten Europas gerade darin besteht, auf eine Verfassung als Projekt einer politischen Identitäts- und Sinnstiftung zu verzichten.

Die weiteren Beiträge lassen sich thematisch gruppieren: das Verhältnis und die Beziehungen zwischen Union und Mitgliedstaaten, die institutionelle Rechtsordnung der europäischen Union sowie ausgewählte Fragen des materiellen Unionsrechts. Den Auftakt zur ersten Gruppe bildet der Beitrag von Stefan Oeter über den „Föderalismus“ in der Europäischen Union, in dem insbesondere die Zusammenhänge von Föderalismus und Souveränität, Supranationalität und Demokratie herausgearbeitet werden. Armin von Bogdandy entwirft eine „Europäische Prinzipienlehre“, die die Möglichkeiten und die Grenzen einer an staatlichen und unionalen Strukturprinzipien orientierten Durchformung der europäischen Rechtsordnung aufzeigt. Der Beitrag von Alexander Schmitt-Glaeser über „Souveräntität und Vorrang“ untersucht die Geltungs- und Anwendungsfrage des vorrangigen Unionsrechts im Verhältnis zum nationalen Recht unter dem Gesichtspunkt der mitgliedstaatlichen Souveränität. Dem Verhältnis von EuGH und nationalen obersten Gerichten, insbesondere der Frage nach dem Letztentscheidungsrecht und den Perspektiven der „Europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit“ im Mehrebenensystem, widmet sich Franz C. Mayer. Unter dem Titel „Staatliches Unionsverfassungsrecht“ behandelt Christoph Grabenwarter die Inhalte des unionsbezogenen Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten und analysiert die Rezeptions- und Anpassungsprozesse, die die nationalen Ordnungen unter dem Einfluß des Unionsrechts gegenseitig vollziehen und die Verklammerung zu einem Verfassungsverbund bewirken.

Mit institutionellen Fragen des Unionsrechts beschäftigt sich der Beitrag von Antje Wiener („Institutionen“), der hauptsächlich die Ideen und Vorgänge der Institutionenbildung im europäischen Integrationsprozeß nachzeichnet. Martin Nettesheim lotet das Thema der „Kompetenzen“ aus, indem er eine „föderale“ Kompetenzlehre und eine Typologie der Kompetenznormen entfaltet, nach den (Aus-)Gestaltungsmöglichkeiten fragt und schließlich die Maßgaben behandelt, die die Wahl zwischen verschiedenen Kompetenznormen steuern. Jürgen Bast analysiert die „Handlungsformen“ des Gemeinschaftsrechts und stellt die Schwierigkeiten ebenso wie die Bedingungen heraus, denen die Entwicklung einer Handlungsformenlehre des Unionsrechts unterworfen ist. Die Idee und die Konstruktion, die rechtlichen Gehalte und die künftigen Entwicklungspotentiale der „Unionsbürgerschaft“ im europäischen Mehrebenensystem werden von Stefan Kadelbach behandelt. Die Betrachtung der „verfassungsrechtlichen Beziehungen zwischen Europäischer Union und Europäischen Gemeinschaften“ führt Werner Schroeder zur Annahme einer funktionalen Handlungseinheit von Union und Gemeinschaften. Differenziert und einschränkend beantwortet Robert Uerpmann die Frage, ob und inwieweit das Recht der WTO, des GATT und der EMRK als „völkerrechtliche Nebenverfassungen“ des Europäischen Gemeinschaftsrechts begriffen werden können. Ebenso umfassende wie dogmatisch vollends durchgebildete Analysen zum materiellen Europarecht liefern sodann die Beiträge über die „Grundrechte“ (Jürgen Kühling), die „Grundfreiheiten“ (Thorsten Kingreen), die „Wirtschaftsverfassung“ (Armin Hatje) und die „Wettbewerbsverfassung“ (Josef Drexl).

Der das Buch abschließende zweite Teil präsentiert Gesamteinschätzungen von drei Persönlichkeiten, die in höchsten Positionen den Werdegang der europäischen Integration beeinflußt haben: Zunächst betrachtet Ulrich Everling die „Europäische Union im Spannungsfeld von gemeinschaftlicher und nationaler Politik und Rechtsordnung“, Paul Kirchhof stellt die Besonderheiten und Folgerungen (aus) der „rechtlichen Struktur des Europäischen Union als Staatenverbund“ heraus, während Manfred Zuleeg schließlich „die Vorzüge der Europäischen Verfassung“ illustriert.