Gelehrte Verfassung für Europa
Was ist eine Europäische Verfassungslehre, brauchen wir eine solche und was vermag sie zu leisten? Diese Fragen werden angesichts des Entwurfes eines EU-Verfassungsvertrages drängender, geht es doch darum, zukünftig nicht nur diese „europäische Verfassung“ mit allen ihren aus der Nichtstaatlichkeit der Europäischen Union resultierenden Eigentümlichkeiten „richtig“ zu erfassen, sondern sie überdies in die Architektur des gesamten europäischen Verfassungsgebäudes, einschließlich mitgliedstaatlicher und ggf. gliedstaatlicher bzw. regionaler Verfassungsgesetzlichkeit, in tragfähiger Weise einzupassen. Häberles Anspruch an eine europäische Verfassungslehre gilt nicht – jedenfalls nicht vorrangig – dem Europäischen Verfassungsrecht im positivistischen Verständnis; ihm geht es vielmehr, wie er bereits einführend erläutert, „um die Etablierung einer ‚höheren‘ Ebene: eben der Verfassungslehre. Dadurch wird es auch möglich, von einer abstrakteren Sicht aus vergleichend und rechtspolitisch zu arbeiten“ (S. 1). Gleichwohl kommt auch die normative (Kon-)Textanalyse nicht zu kurz. Der Band schließt nahtlos an die bereits früher von Häberle vorgelegte „Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien“ (1999) und die „Europäische Rechtskultur“ (1994) an, erweitert, vertieft und manifestiert so manchen ursprünglichen Gedankengang.
Häberles Ausgangspunkt, „Verfassung als Kultur“ (S. 203), gebiert mit innerer Zwangsläufigkeit eine Europäische Verfassungslehre, die verstanden wird als eine „das Normative ernst nehmende Kulturwissenschaft“ (S. 206). Dieser Ansatz, mit all seinen Implikationen in das weite Feld der Kulturwissenschaften, öffnet und offenbart einen außergewöhnlichen, einer vergleichsweise engen rechtswissenschaftlichen Dogmatik fremden Erkenntnisfundus, in dem die europäische Rechtsgemeinschaft sich unschwer in dem sehr viel umfassenderen Rahmen einer europäischen Kulturgemeinschaft wiederfindet. Daß der traditionell etatistisch verstandene Verfassungsbegriff einer grundlegenden Metamorphose zugänglich ist, daß Verfassung als (bedeutsamer) Teilaspekt europäischer Entwicklungsoffenheit zumal in ihrer Entstehung und Form, weniger in Inhalt und Funktion den neuen politischen Herausforderungen anzupassen ist, dürfte mittlerweile zum Allgemeingut rechtswissenschaftlicher Befassung gehören. Dennoch greift Häberle die (deutsche) Grundsatzkontroverse zum Verhältnis von Staat und Verfassung erneut auf, um unter anderem durch den Begriff des Verfassungsverbundes den vom BVerfG im Maastricht-Urteil (1993) geprägten Begriff des Staatenverbundes („das unglückliche Wort vom ‚Staatenverbund‘ brennt einer europäischen Verfassungslehre schmerzhaft in den Ohren“, S. 34f.) zu ersetzen. Gleichzeitig wird die Verfassungslehre in Stellung gebracht gegen die (traditionelle) Allgemeine Staatslehre (vgl. S. 35, 229), wohl meinend, sie würde den aktuellen europäischen Gegebenheiten nicht hinreichend gerecht werden. Durch diese in der deutschen Verfassungslehre durchaus verbreitete Abneigung bis hin zur Ablehnung der Staatslehre als unzeitgemäß, werden äußerst gewichtige Bereiche ohne methodische Notwendigkeit aus dem Forschungsfeld dieses Grundlagenfaches ausgegrenzt. Eine (moderne) Allgemeine Staatslehre würde ihr Ziel verfehlen, blendete sie Verfassungsgeschichte und Verfassungsvergleichung, europäische Einigung und wissenschaftliche Nachbargebiete als Objekt des wissenschaftlichen Interesses aus; eine Verfassungslehre allerdings, zumal eine „europäische“, die den Staat nicht mehr Ernst nimmt, läuft Gefahr, den Machtfaktor zu ignorieren, welcher jedenfalls der Rechtsverwirklichung, letztlich auch der Gewährleistung der Verfassungsinhalte selbst, eigentümlich ist. Häberles kulturwissenschaftlicher Ansatz erschließt wichtige Erkenntnisse für eine europäische Verfassungslehre, ist gleichzeitig Pionierleistung und Grundlegung. Die damit eröffnete Dimension gesamteuropäischen Verfassungsdenkens ist für zukünftige Forschung, auch wenn Grundidee und Blickrichtung wechseln werden, wissenschaftliche Basis und Aufgabe.