Die Wanderungen der Kelten in der antiken literarischen Überlieferung

 

Kompexität von Problemen angegangen

Die Präsenz keltischer Völker und Volksgruppen ist für ein weites Gebiet Europas und Kleinasiens nachweisbar, wenn auch nicht in der jeweils gleichen Zeit – von Irland im Westen bis in die Türkei im Osten. Hierbei muß aber stets berücksichtigt werden, daß die Kriterien für eine Bezeichnung „Kelten“ nicht einheitlich sind, denn es werden sowohl archäologische als auch sprachliche oder literarische Kriterien verwendet, die sich nicht notwendigerweise decken. In materiellen Selbstzeugnissen wird die Ausbreitung der Kelten archäologisch nur partiell greifbar; schriftliche Zeugnisse sind hingegen von fremden Beobachtern überliefert, wenn die Ereignisse sie direkt interessierende geschichtliche oder politische Auswirkungen hatten. Kurt Tomaschitz hat nun die Textpassagen griechischer und lateinischer Autoren zusammengestellt und ausführlich kommentiert, die entsprechende Auskünfte über kollektive Wanderungen der kontinentalen Kelten vor ihrer Integration ins Imperium Romanum geben; dies sind bei ihm insgesamt 77 Stellen aus Werken von 39 Schriftstellern. Zunächst stellt er die Keltenerwähnungen bei griechischen Autoren des 6.-4. vorchristlichen Jahrhunderts und bei zwei spätantiken Autoren, Avienus und Ammianus Marcellinus, vor, denn letztere könnten möglicherweise sehr alte Quellen benutzt haben und stellen die Quellenforschung und Analyse vor spezielle Probleme. Die darauf folgenden Hauptkapitel sind geographisch geordnet, nach den Wanderungsbewegungen der Kelten nach Spanien, Italien, dem Balkan und Kleinasien sowie innerhalb des Barbaricum. Die Textstellen sind jeweils in Original und Übersetzung gegeben, daran schließt sich eine dichte und höchst informative Diskussion ihrer Quellen, Verläßlichkeit und Aussagekraft an. Deutlich werden dabei immer die methodischen Probleme des Gesamtmaterials, die Tomaschitz sehr klar herausarbeitet, nämlich einerseits die weitgehend nur späte und indirekte Wiedergabe der relevanten Autorenaussagen durch verkürzte Zitate bzw. Paraphrasen bei späteren Autoren, andererseits die Seltenheit von Berichten, die auf direkten Kenntnissen keltischer Völker, beruhen (so Callimachus und besonders Caesar), dann aber durch spezifische und möglicherweise verfälschende Autorenintentionen gebrochen werden. So prägen die Zufälle der Überlieferung entscheidend das heutige Bild der Keltenwanderungen. Methodisch besonders instruktiv für die Probleme bei einer indirekten Überlieferung der Quellen sind sechs Texte zu den Wanderungen der Helvetier, die alle irgendwie von Caesars Ausführungen hierzu in seinen Commentarii de bello Gallico abhängig sind, möglicherweise mit Benutzung zusätzlicher Informationen, und augenfällig machen, wie unterschiedlich die Darstellungen selbst bei Verwendung einer Grundquelle ausfallen können. Die Komplexität der Probleme bei der Entschlüsselung der antiken Quellen verdeutlicht auch die Unvereinbarkeit der verschiedenen Chronologien von keltischer Alpenüberschreitung und Eroberung Roms (wohl 387/6 v.Chr.), wobei letztere als ein traumatisches Ereignis für die römische Historiographie und ihre Keltenstereotypen eine zentrale Rolle spielt – wenn auch in so überformter Art, daß sie kein für die Keltenwanderungen relevantes Material mehr enthält und selbst der Name des Keltenführers Brennos entlehnt ist, nämlich von dem keltischen Führer des Angriffs auf Delphi, einem anderen traumatischen Resultat keltischer Wanderzüge. Die von Tomaschitz als lange Chronologie bezeichnete Variante, die Alpenüberschreitung und Eroberung Roms nicht zeitlich direkt miteinander verknüpft und so im Widerspruch zur stadtrömisch geprägten Geschichtsschreibung steht, wird speziell von Livius vertreten, und Tomaschitz kommt vorsichtig abwägend zu dem Ergebnis, daß dessen Version nicht nur vielleicht einen wahren Kern hat, sondern ihr sogar Traditionen der norditalienischen, padanischen Kelten zugrunde liegen mögen. Insgesamt wird aus Tomaschitz’ ausgewogener und abwägender Darstellung sehr deutlich, daß die antiken Quellen sehr wohl Bilder von den Wanderungsbewegungen der Kelten vermitteln, diese Bilder aber stark verzerrt sind und durch sorgfältige Analysen auch nur partiell entzerrt werden können. Zu einer solchen Entzerrung hat Tomaschitz, durch überaus sorgfältige Textanalyse und ausführliche und kritische Auswertung der relevanten Forschungsliteratur, in hervorragender Weise beigetragen und der fachwissenschaftlichen Diskussion neue Impulse gegeben.