Gang durch die Jahrtausende
Aus Anlaß seines 200jährigen Bestehens präsentiert das Landesmuseum Mainz in einer bemerkenswerten Präsentation Alltagsleben und Totenbrauchtum in Rheinhessen über 300 000 Jahre hinweg. Im Anschluß an die Ausstellung Die Römer und ihr Erbe hat Dr. Birgit Heide ihren langgehegten Wunsch erfüllen können, ein Art „Lehrpfad“ durch die Steinzeit anhand rheinhessischer Fundplätze und den Zeugnissen ihrer vergangenen Kulturen zu konzipieren.
Die Ausstellung beginnt im mittleren Altpaläolithikum und reicht bis in den Übergang vom späten Neolithikum zur frühesten Bronzezeit. Das durch warmes Klima und Lößböden begünstigte Rheinhessen bot altpaläolithischen Jäger- und Sammlergemeinschaften reiche Nahrungsgrundlagen und den frühen neolithischen Bauern fruchtbare Äcker (vgl. Geomorphologie in Saal 1). Zahlreiche Funde archäologischer Ausgrabungen seit den 1850er Jahren belegen die frühe Beliebtheit der Region. Ihre Hinterlassenschaften füllen neun Besucherräume des Mainzer Landesmuseums; in einem ersten Ausstellungsabschnitt sind chronologisch angeordnet Siedlungsobjekte zu sehen, die aus den Magazinen sowohl des Mainzer Landesmuseums als auch der Landesdenkmalämter und Museen in Hessen und Rheinland-Pfalz sowie aus privaten Sammlungen stammen. In einem zweiten Ausstellungsbereich ergänzen Grabkomplexe und ihre Beigaben nach Zeit und Typen geordnet unser bislang bekanntes Bild von Geisteshaltung und Totenkult vor allem der Jungsteinzeit.
Verschiedene Steingeräte sind die ältesten Gebrauchsgegenstände der Ausstellung, die aus den Flußterrassen des Rheins und der Nahe geborgen wurden. Ihrer Form nach wirken sie „archaisch“ und werden deshalb in das Altpaläolithikum datiert; da jedoch stratigraphisch gesicherte Fundkomplexe fehlen, können die ausgestellten Objekte auch jünger sein; auf jeden Fall bewegt man sich im Zeitraum von vor 300°000 Jahren.
Eiszeitjäger haben im mittleren Jungpaläolithikum beim heutigen Mainz-Linsenberg einen größeren Lagerplatz errichtet, der bemerkenswerte Funde barg: Schmuckschnecken, z.T. aus dem Mittelmeerraum importiert, wurden zu Anhängern verarbeitet und sind ein Beleg für ein weit gespanntes Tausch- und Kommunikationsnetz; zwei fragmentarisch erhaltene Frauenskulpturen aus Sandstein (sog. Venusstatuetten) des jüngeren Gravettien spiegelt die großräumige kulturelle Gemeinsamkeit jener Menschen wider, die vor 25 000 und 23 000 Jahren im Gebiet zwischen dem Ural bis zum Atlantik siedelten; Zähne und Knochen von Pferd, Nashorn und Ren geben zusammen mit Gravettespitzen, Klingen und Stichellamellen Einblick in ihre Jagdtechniken und Ernährungsgewohnheiten.
Artefakte aus dem Mesolithikum (ca. 9 500-5 600/5 500 v.Chr.) sind selten und hier lediglich durch Pfeilspitzen, Mikrolithen und Kratzer vertreten.
Breiten Raum nimmt die frühneolithische Keramik ein, die größtenteils in Mainz-Gonsenheim, -Finthen und -Weisenau ausgegraben wurde. Meistens stammt sie aus Siedlungsgruben und datiert in die Linearbandkeramik (ca. 5°600-4°900 v.Chr.). Scherben der Gruppe La Hoguette im selben Fundhorizont mit ältester Linearbandkeramik belegen die Gleichzeitigkeit beider Keramikgruppen, die allerdings auf den rheinischen Raum beschränkt bleibt. Diese Einzelfundstücke als auch Modelle und Rekonstruktionen vermitteln dem Besucher einen Einblick in das Alltagsleben auf den ersten Gehöften, Äckern und Viehweiden der steinzeitlichen Bevölkerung Rheinhessens. Bestattungen aus dieser Zeit sind selten, daher nimmt das große linearbandkeramische Gräberfeld von Flomborn eine besondere Stellung ein. Der Fundort wurde aufgrund seiner typischen Gefäßverzierungen namensgebend für eine Stufe der älteren Linearbandkeramik.
Chronologisch folgen in der Ausstellung die mittelneolithischen Kulturgruppen Hinkelstein, Großgartach und Rössen (ca. 4°900-4°400 v.Chr.). Als herausragend für die Hinkelsteinkultur wird das Gräberfeld von Monsheim präsentiert. Zwei unterschiedliche Bestattungssitten an einem Ort sind im Gräberfeld von Trebur vereint: Es fanden sich sowohl Begräbnisse der Hinkelstein- als auch der Großgartacher Kultur. Außerdem ist der Friedhof von Trebur der größte bislang bekannte Bestattungsplatz der möglichen Kulturensequenz Hinkelstein-Großgartach-Rössen. Rheinhessen kommt somit für die Erforschung des Neolithikums eine überragende Bedeutung zu.
Die bereits aus Gernsheim gut bekannte Michelsberger Kultur (ca. 4°400-3°500 v.Chr.) findet weitere Parallelen in Mainz-Hechtsheim, -Finthen und Wackernheim. Jeweils nur aus Siedlungsgruben geborgen, konnten ganze Keramikensembles vor allem bei Erdaushubarbeiten in den 1950er und 1960er Jahren geborgen werden. Eine kulturbedingte Grabsitte ist für diese Epoche nicht mehr feststellbar, so daß lediglich Einzelfunde zur Analyse herangezogen werden können. Regelrechte Beigaben haben sich bei Bestattungen nicht gefunden.
Schnurkeramik und Glockenbecherkultur sind zwei Kulturphänomene des Endneolithikums (ca. 2 800-2°300/2 100 bzw. 2 600-2°300/2 100 v.Chr.), die teilweise aufeinander folgten, teilweise zeitlich parallel nebeneinander existierten, lassen sich in größerem Umfang in Rheinhessen bei Mainz und angrenzenden Stadtteilen sowie in Nierstein, Gabsheim, Worms und Guntersblum nachweisen. Hauptsächlich sind die Ausstellungsobjekte Gräbern entnommen; über das schnurkeramische sowie auch über das glockenbecherzeitliche Siedlungswesen hingegen ist wenig bekannt. Auffallend ist vor allem die „antithetische“ Bestattungssitte in beiden Kulturgruppen. Während in der schnurkeramischen Kultur Grabhügel mit Hockerbestattungen in West-Ost-Orientierung dominieren, sind die Verstorbenen der Glockenbecherkultur nach einem anderen Ritus, nämlich in Flachgräbern mit Nord-Süd-Orientierung beigesetzt worden. Außerdem unterscheidet sich die Grablege der Geschlechter sowie die Blickrichtung der Bestatteten jeweils. Als Grabbeigaben finden sich in der Schnurkeramik vor allem Äxte, in der Glockenbecherkultur fallen Armschutzplatten als Utensil von Bogenschützen auf. Außerdem kommen erste Kupfergegenstände wie z.B. Äxte und Pfrieme auf. Ein Grabfund von Heidesheim weist mit einem späten Glockenbecher, aber auch mit einer bronzenen Dolchklinge bereits in die nachfolgende frühe Bronzezeit (ab ca. 2°200 v.Chr.).
Zu den auffallendsten jungsteinzeitlichen Funden im Besitz des Mainzer Landesmuseums gehören fünf Prunkbeile aus Jadeit, die 1850 angekauft wurden. Die großen, dünnen und sorgsam polierten Beilklingen sind sicher nicht primär für den praktischen Gebrauch hergestellt worden – dagegen spricht vor allem ihre geringe Dicke und die extreme Breite im Schneidenbereich. In ritueller Anordnung niedergelegte Prunkbeile, wie bei den Exemplaren hier aus Gonsenheim und Worms, lassen sich z.B. in Carnac/Bretagne finden, in Mitteleuropa sind sie dagegen eher selten.
Die Ausstellung bietet dem Wissenschaftler und dem interessierten Besucher viel Informatives in einer bemerkenswerten Präsentation. Die Zweiteilung zwischen Siedlungs- und Grabfunden betont zu Recht die Unterschiedlichkeit beider Sphären, der auch atmosphärisch durch andersartige Ausleuchtung Rechnung getragen wird. Die chronologische Gliederung macht es leicht, sich in den verschiedenen Epochen zu orientieren, um die unterschiedlichen Entwicklungen der Kulturstufen nachvollziehen zu können. Ein hervorragender Katalog, der als Lehrbuch bestens geeignet ist, um anhand des Gebietes Rheinhessen einen Überblick über die neolithische Entwicklung in Mitteleuropa zu gewinnen, ist ein weiterer Beleg, mit welchem großem Engagement diese Ausstellung erarbeitet worden ist. Es fehlen lediglich eine chronologische Übersicht und eine geographische Karte des in der Ausstellung vorgestellten Raumes zur besseren Orientierung.