Teju Cole, der amerikanische Kulturwissenschaftler mit Blick für das Große, sagte einmal bei einer Lesung, dass er keine Rezensionen schreibe, in denen er nur das Buch danach bewerte, ob es gut und informativ oder das Gegenteil sei. Viel wichtiger sei ihm die Geschichte hinter dem Buch, was es widerspiegelt und welche kulturellen Strömungen in ihm sichtbar werden.
Eine klassische Rezension zu John Nettles Aufarbeitung der fünf Jahre währenden deutschen Besatzung der Kanalinseln Guernsey, Jersey, Sark und Aldernay wäre – würde man Teju Coles Ansatz nicht heranziehen – schnell geschrieben. Zu eindeutig ignoriert Nettles in dem Buch akademische Standards: Zitate werden grundsätzlich nicht belegt und auf 334 Textseiten kommen lediglich 111 Endnoten, die sich dann hauptsächlich auf inhaltliche Aspekte beschränken á la „Hermann Goering war wohl eine der schillerndsten Persönlichkeiten der NS-Elite. Er war süchtig nach Morphium […]. Er nahm aber auch viele andere Drogen“ (S. 343). Die Abbildungen haben keine Verweise, die deren Herkunft eindeutig zuordnen, und alle im Original englischsprachigen Zitate wurden übersetzt und teilweise unkommentiert in den Haupttext eingebettet (vgl. z.B. S. 108). Zudem wirkt die Sprache mit Sätzen, die den Leser im ‚kollektiven Wir‘ miteinschließen („Ihm werden wir […] noch oft begegnen“, S. 13), allzu oft zu flapsig und reißerisch, als dass man sie als akademisch neutral bezeichnen könnte. Bereits der Prolog gibt die sprachliche Tendenz des Buches vor: „Der neue ‚Führer‘ trat freudig dem erlesenen Club der Diktatoren bei – dem Stalin, Mussolini und Franco angehörten, die während dieser turbulenten Zeit die Welt in Schrecken versetzten.“ (S. 9f.) Auffallend sind auch die häufigen pauschalen Aussagen wie „Die Nazis liebten Filme. Ganz Deutschland liebte Filme. […] Hitler selbst verbrachte Unmengen Zeit vor der Kinoleinwand – Zeit, in der er, wie einige Kritiker meinten, besser nach einem Ausweg aus dem Schlamassel gesucht hätte, in den er sein Land geführt hatte“ (S. 97) – das muss man dem Buch lassen, den Zweiten Weltkrieg findet man nicht oft zum ‚Schlamassel‘ verniedlicht. Zudem stehen Formulierungen wie „judenfreies Arierparadies“ (S.11) ohne distanzierende Anführungszeichen mitten im Text. Dies ist kein Versuch, eine political correctness einzuklagen, aber Formulierungen wie „überlegene Arier“ (S. 10), „brutale und erbarmungslose Horde Bolschewiken“ (gemeint sind die russischen Soldaten an der Ostfront, S. 110) oder ‚Was wäre gewesen wenn‘-Überlegungen disqualifizieren den Text in wissenschaftlicher Hinsicht.
Im Grunde genommen besteht das Buch aus zwei Argumentationslinien, die zum einen bereits überholt sind und zum anderen von einem Patriotismus geprägt sind, der in einer wissenschaftlichen Aufarbeitung zumindest befremdlich wirkt. Die erste Hauptthese ist, dass Hitler – und nur Hitler – der Kopf aller militärischen und politischen Entscheidungen gewesen ist. Nur am Rande tauchen vereinzelt andere Führungspersonen wie Goebbels und Göring auf, wobei letzterer als „fette[r] Reichsmarschall“ beschrieben wird, der „Diamanten liebkoste“ sofern er nicht gerade zu „therapeutischen Zwecken auf der Jagd war“ (alle Zitate S. 97). Die Gesamtschuld wird dadurch ganz allein auf die Person Hitler gelenkt, was auch bedeutet, dass die nötige Differenzierung ausbleibt, welche Stellen welche Entscheidungen getroffen und umgesetzt haben. Obwohl diese Lesart überholt ist, wundert es daher nicht, dass Hitler auf einer Doppelseite gleich siebenmal als Hauptakteur genannt wird (vgl. S. 10f.).
Die zweite These Nettles’ weist in Richtung der Cole’schen Frage, was ‚hinter‘ dem Buch steht. Da die Bewohner der Kanalinseln die einzigen Briten waren, deren Heimat von der deutschen Armee besetzt wurde, werden sie als Inbegriff der britischen Werte und des englischen Lebensstils dargestellt. Dies setzt die Sichtweise voraus, dass die Insulaner von der Regierung in London im Stich gelassen wurden, als diese den deutschen Besatzern die Inseln kampflos überließen. Und wie reagierten die meisten Inselbewohner? Mutig, ohne Tränen und mit viel schelmenhafter Gewitztheit handelten sie „[g]anz der englischen Art entsprechend“ (S. 75). Damit entwirft Nettles ein Gegenbild zu den im Buch immer wieder angeführten Vorwürfen des britischen Festlands, dass die Inselbewohner zu eng mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet hätten; eine Anschuldigung, die im August 1945 zu einer Untersuchung von Kollaborationsvorwürfen durch den britischen Geheimdienst führte. In ihrem Handel hätten die meisten Insulaner vielmehr ihren Patriotismus bewiesen, so Nettles’ gängige Lesart. Folgerichtig fragt er im Zusammenhang mit dem Bailiff (Verwalter) von Guernsey, Victor Carey, der ein enges Verhältnis zu den deutschen Besatzern pflegte, ob „es diesem Mann an wahrem britischen Mut“ (S. 42) gefehlt habe. Im regelmäßig wiederkehrenden Rhythmus macht der Autor nachdrücklich deutlich, dass die Bewohner der Kanalinseln von der britischen Regierung in London ohne Widerstand den deutschen Truppen überlassen worden seien: Die Inseln waren bei ihrer Besetzung im Sommer 1940 „wehrlos angesichts der vorrückenden Deutschen. Niemand stand ihnen bei. Keine britischen Truppen waren da, um sie zu verteidigen“ (S. 15). Dieser Sachverhalt und das mutige Agieren der Bewohner von Guernsey, Jersey, Sark und Aldernay in dieser „furchtbare[n] Zeit“ (S. 25), in dieser „entsetzlichen Zeit“ (S. 27) dürfe nicht in Vergessenheit geraten.
John Nettles, der den meisten weniger als Historiker denn als Darsteller von Inspector Barneby bekannt ist – eben jener Krimiserie, die die Britishness in jeder Sendeminute zelebriert und durchaus schon in der Kritik stand, ein zu nostalgisches, soll heißen ‚weißes‘ England zu zeigen –, hat ein Buch für Leser geschrieben, die Anekdoten suchen. Sie erhalten dabei eine aus Tagebüchern und Erinnerungen zitierte Meistererzählung, bei der alle Ereignisse während der Besatzung in eine logische Argumentation eingebettet und klar bewertet werden können. Er zeichnet die Menschen nach, den „klu[gen] und gutmütige[n] Arzt“ (S. 66), die „Mitarbeiter der kleinen aber großartigen Fabrik Summerland“ (S. 85), die zunächst „zivilisierten und gutaussehenden Soldaten der Wehrmacht“ (S. 74), die „Augenweiden“ (S. 60) glichen, und „diese armen Kreaturen aus dem Osten“ (S. 92) – gemeint sind die Zwangsarbeiter der Organisation Todt, die auf den Kanalinseln inhaftiert waren. Und er zeigt, wie die liebenswürdigen „Witzbolde“ (S. 100) auf den Inseln den deutschen Besatzern doch immer wieder ein Schnippchen schlagen konnten. Diese nachdrückliche Beschreibung einer insularen Identität, die sich aus sich selbst definiert und gegen die ferne Regierung agieren muss, um sich selbst treu zu bleiben, ist in Zeiten europäischer Nationalismen eine sehr aktuelle Thematik und kann auf einer Metaebene neue Sichtweisen eröffnen. In geschichtswissenschaftlicher Hinsicht gibt es hingegen geeignetere Bücher für die Beschäftigung mit der deutschen Besatzung der britischen Kanalinseln.