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Der Traum vom Jahre Null - WLA-Online - Wissenschaftlicher Literaturanzeiger
Der Traum vom Jahre Null
Autoren, Bestseller, Leser: die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945

Die Beschäftigung mit der deutschsprachigen Literatur der Nachkriegszeit ist sowohl in der Wissenschaft als auch in der populärwissenschaftlichen Literatur breit berücksichtigt worden. Es finden sich etwa Studien über die Wechselwirkungen zwischen der alliierten Kulturpolitik bis 1949 und der (deutschen) Nachkriegsliteratur, über die inhaltliche, literarisch‑stilistische Entwicklung vor und nach der Gründung beider deutscher Staaten (oftmals nur in Bezug auf die BRD oder die DDR) in der deutschsprachigen Literatur oder auch über den Literaturbetrieb oder die Literaturvermittler, wie etwa die Gruppe 47. Der studierte Germanist und Publizist Christian Adam positioniert sich mit seiner Veröffentlichung „Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945“ (2016) auf einigen Schnittstellen dieser unterschiedlichen Perspektiven – und liefert ferner gewissermaßen eine Fortsetzung seines Buchs „Lesen unter Hitler“ (2010). Er liefert eine abwechslungsreiche Überblicksdarstellung, die neben den literarisch tradierten Inhalten und den Akteuren des Handlungsfelds ‚Literatur‘ auch einschlägige Aspekte des Produktions- und des Rezeptionskontextes vor und nach der Gründung beider deutscher Staaten berücksichtigt.

„Wir begannen nicht im Jahre Null“, lautet das von Wolfgang Joho bereits 1965 aufgestellte Postulat, das Adam in seiner Studie durch die Untersuchung „der massenhaft verbreiteten, viel gelesenen Bücher“ (S. 17f.) bestätigt. So offenbaren sich laut Adam „[b]eim Blick auf den Buchmarkt in Deutschland […] harte Brüche, tiefe Einschnitte, aber auch viele Kontinuitäten“ (S. 17), die sich – und dies zeigt er im Verlauf seiner Abhandlung eindrücklich – über die „vermeintlichen Zäsuren 1933 und 1945“ (S. 17) hinweg gesetzt haben. Mithilfe einer selbst erstellten ‚Bestsellerliste‘ mit rund 400 deutschsprachigen Buchtiteln, die mindestens in einer Stärke von 100000 Exemplaren zwischen 1945 und „Anfang der sechziger Jahre“ (S. 18) in West- und/oder Ostdeutschland erschienen sind und neben belletristischen Werken auch „Sachbücher, Dokumentarisches und seriell hergestellte Heftromane“ (S. 18) umfasst, legt er die Langzeitfolgen der nationalsozialistischen Herrschaft auf dem deutschen Buchmarkt nach 1945 offen. Dabei stehen insbesondere die Fragen nach dem Umgang beider deutsche Staaten mit der Hinterlassenschaft Hitler‑Deutschlands, nach den – teilweise frappierenden – Ähnlichkeiten der Kontrollmaßnahmen im kulturell‑literarischen Sektor des Nationalsozialismus, der Alliierten, der BRD und der DDR sowie nach dem Umgang mit deutscher Schuld, Krieg und Holocaust in den Texten selbst im Mittelpunkt seiner Untersuchung.

Wünschenswert wäre hier jedoch eine präzise Begründung gewesen, warum gerade die doch etwas unscharf formulierte zeitliche Begrenzung auf den ‚Anfang der sechziger Jahre‘ von Adam in seiner Studie als Grenze des Untersuchungsraums festgelegt wird. Lediglich anhand der fast am Ende seiner Studie erfolgten Auseinandersetzung mit den literarisch‑stilistischen Veränderungen im Umgang mit dem Holocaust infolge des Eichmann‑Prozesses in Jerusalem 1961 und der Frankfurter Auschwitz‑Prozesse zwischen 1963 und 1965 kann der Leser selbst einer Vermutung kommen, warum Adam den Beginn der 1960er Jahre – zumindest in der BRD – als „Wendemarke“ (S. 356) und daher als Grenze verstehen könnte. So heißt es: „Durch sie [die beiden Gerichtsverfahren; A.B.] wurden die Gräueltaten des Holocaust einem großen Publikum vor Augen geführt. Von da an schien ein Leugnen und Verschweigen kaum noch möglich“ (S. 356). Mit den Worten von Ernestine Schlant hält Adam abschließend fest, dass sich im Zuge dessen „[z]war […] langfristig Strategien des Leugnens und Umgehens“ (S. 356) behauptet hätten, „aber die Art des Schweigens“ (S. 356) – und damit auch das Narrativ des Holocaust – sich geändert habe. Inwieweit sich dieser Gedankengang allerdings auf die DDR anwenden lässt, in der die Deutung der beiden Prozesse in einem anderen gesellschaftspolitischen Kontext stattfand, ist jedoch fraglich.

Wie subtil, aber weitreichend die Auswirkungen personeller Kontinuitäten im Literaturbetrieb sein konnten, zeigt sich beispielsweise am Skandal um das Autorenpaar Frenzel. Herausgegeben von der ehemals in verschiedenen Funktionen für Alfred Rosenberg tätigen Elisabeth Frenzel und dem ehemaligen Mitarbeiter im Reichspropagandaministerium Herbert A. Frenzel erschien 1953 erstmals „Daten Deutscher Dichtung“, das sich zum Standardwerk entwickelte und immer wieder neu aufgelegt wurde – was weitreichende Konsequenzen nach sich zog: „Teile deutscher Literatur“ blieben infolgedessen „dauerhaft ausgeblendet“ (S. 320). „Das Wirken der Frenzels und Konsorten verlängert das Verbot der Nazis über 1945 hinweg“ (S. 320), hält Adam treffend fest. Am Beispiel der Frenzels – und insbesondere am kurz zuvor von Adam skizzierten und ähnlich problematischen Werk „Geschichte der deutschen Literatur“ (1953) von Willy Grabert und Arno Mulot – wird jedoch auch eine Unschärfe in Adams Literaturbegriff deutlich: So ist auch der Sachbuchbegriff unterschiedlich weit oder eng auszulegen. Liegt eine eher eng gefasste Differenzierung zugrunde, dann ist das Sachbuch ferner vom Schul- und Fachbuch zu unterscheiden. Da weder die „Daten deutscher Dichtung“ noch die „Geschichte der deutschen Literatur“ auf der ‚Bestsellerliste‘ Adams enthalten sind, ist zu vermuten, dass es hier zu einer solchen Unterscheidung gekommen ist. Da sich aber auch das Zielpublikum – und damit die Produktionsweisen, Vertextungsstrategien und Distributionswege – grundsätzlich von denen des allgemeinen Sachbuchs und der Belletristik unterscheiden, ist fraglich, ob die beiden Titel im Kontext der Fragestellung Adams überhaupt zum Textkorpus gehören. Dennoch werden anhand der beiden Beispiele die Konsequenzen personeller Kontinuitäten erschreckend vor Augen geführt.

Die zwei skizzierten Unschärfen ändern jedoch nichts an der sich, insbesondere durch die Detaildichte der Fallbeispiele, einstellende und geradezu erschreckende Erkenntnis am Ende der Ausführungen Adams: Mit „Blick auf die massenhaft verbreiteten Texte in Ost- und Westdeutschland lässt sich von einem breiten Strom sprechen, der […] aus den zwanziger Jahren kommend in die fünfziger weiterfloss und das Feld der populären Literatur in Gesamtdeutschland über mehrere Jahrzehnte beherrschte - ungeachtet aller politischen Zäsuren“ (S. 357).