Im Kontext nicht zuletzt neoromantisch angelegten Interesses für das Mittelalter (oder oft genug eher für das, was sich die entsprechenden Personen und Personengruppen unter ‚Mittelalter‘ vorstellen) ist gerade auch die Artusepik und hier nicht zuletzt der Parzival immer noch und wieder auf ein ausgeprägtes Interesse gestoßen. Dass sich allerdings auch im Rahmen seriöser Forschung mit den entsprechenden Texten befasst wird, zeigt die vorliegende Publikation, die ursprünglich im Jahre 2014 an der historisch-philosophischen Fakultät der Universität Bern als Dissertation angenommen wurde.
Unter dem gegenüber dem eigentlichen Dissertationstitel deutlich anregenderem Titel werden Komplementarität und Kohärenzprobleme des ‚Rappoltsteiner Parzival‘, der nur in einer Handschrift der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe überliefert ist, thematisiert, der, wie es in der Einleitung heißt, für die germanistische Mediävistik einen „Glücks- und einen Problemfall zugleich“ darstellt. Dieser ‚Sonderfall‘ der Überlieferung des Wolfram’schen – aber eben auch Chrétien’schen – Parzival bietet, so Yen-Chun Chen, neben den in der Forschungsauffassung über einen längeren Zeitraum vorherrschenden ‚Risiken‘ einer schlecht überlieferten, kontaminierten Version des ‚Parzival‘ auch die Möglichkeit des Perspektivwechsels resp. der Perspektiverweiterung.
Nach der Einleitung, die Problemstellung und Lösungsansätze für die angedeuteten ‚Problemfälle‘ diskutiert, werden im Hauptpunkt II zunächst die formal-theoretischen Rahmenfaktoren dargelegt, d.h. das Feld der narrativen Kohärenz und der Komplementarität erörtert. Wichtig, wenngleich nicht unbedingt neu ist in diesem Zusammenhang der Hinweis darauf, dass entscheidender als die Frage nach einer absoluten Lösung bezogen auf die Verschränkung der Kontingenz „das Erkennen dieses komplexen Verhältnisses, in dem die Kohärenz nicht primär durch mono-lineare Kausalität abgesichert ist, sondern es sie vielmehr anhand des Ineinandergreifens widersprüchlicher Kausalitäten zu entfalten gilt“, ist (S. 93).
Chen definiert offenbar bereits das Phänomen ‚Gral‘ als für diese Komplexität prädestiniert, da in der ernsthaften literarischen Verarbeitung dieses gewissermaßen in der Transzendenz angelegten Wunders auch in der prinzipiell unterhaltend verstandenen Literatur theologisch-theistische Inhalte dargestellt werden sollen, die sich der eindimensionalen Beschreibung per se entziehen müssen. Mit dieser Akzentuierung wird durch Yen-Chun Chen ein wesentlicher Schwerpunkt dahingehend gesetzt, dass der ‚Rappoltsteiner Parzival‘ nur im Kontext nicht allein anderer Parzival-Versionen, sondern grundsätzlich der Vergleich mit anderen ‚Gralsdichtungen‘ anzustreben sei. Interessant auch, und für die auf mittelhochdeutsche Texttraditionen konzentrierte Forschung nicht unbedingt der Normalfall, ist das Einbeziehen auch französischer Texte, durch die das Vergleichsspektrum erweitert werden kann.
Auf einer soliden forschungsbasierten Literaturbasis werden diese Aspekte narrativer Kohärenz detailliert ausgearbeitet und erweitert, so dass für die eigentliche textimmanente Arbeit ein tragfähiger Grund gelegt ist, die dann einzelne Aspekte diskutiert und stilistische bzw. inhaltlich-funktionale Bezüge herzustellen in der Lage sein dürfte. In diesen gewissermaßen vorbereitenden Kontext fügt sich auch eine Diskussion der Parzival-Überlieferungen Chrétiens und Wolframs, die in jeweils einem eigenen Schwerpunkt dargestellt ist.
Ein wichtiger Aspekt der Bearbeitung durch Yen-Chun Chen ist wie bereits angedeutet die komparatistische Herangehensweise. Die Einordnung des ‚Rappoltsteiner Parzival‘ in den Kontext anderer Grals- bzw. Parzivalüberlieferungen nicht zuletzt aus dem französischen Sprachraum bietet dementsprechend zum einen natürlich eine notwendige Basis, um die Besonderheiten eben dieser Überlieferung zu würdigen, ermöglicht aber andererseits auch einen grundsätzlichen Überblick, der gewiss gerne angenommen werden wird. So finden sich auch adäquate Szenen und Abläufe aus anderen Texten gewürdigt, die dergestalt eine Vergleichsebene zum Text des ‚Rappoltsteiner Parzival‘ bieten.
Dieser Ansatz ist einerseits die wirkliche Stärke der vorliegenden Publikation, andererseits womöglich auch ihre Schwäche. Denn wenngleich im Kontext der Thematisierung paralleler Überlieferungen immer wieder auf den ‚Rappoltsteiner Parzival‘ verwiesen ist, nimmt die kompakte Beschäftigung mit der Karlsruher Handschrift meines Erachtens einen etwas zu knappen Raum ein. Die im Anhang aufgelisteten Überschriften des ‚Parzival‘ sind dagegen eine wertvolle Hilfe zum Erschließen dieses Textes.
Der vorliegende Band hinterlässt einen nicht ganz glatten Eindruck. Werden einerseits interessante und auch für die Arbeit abseits des ‚Rappoltsteiner Parzival‘ nicht unwesentliche Anregungen geliefert, wird dem Kerntext selbst meines Erachtens etwas zu wenig Raum geboten. Gleichwohl bieten sich hier gerade für das zumeist eher vernachlässigte Feld romanisch-germanischer Literaturbeziehungen nicht unwesentliche Grundlagen und die pädagogisch vielgerühmten ‚Angebote‘, die die Lektüre empfehlenswert erscheinen lassen, wobei der nicht geringe Preis vermutlich Studierende vom Erwerb eher abschrecken dürfte.