Über einen längeren Zeitraum hat sich in der bundesdeutschen Germanistik die Heldenepik eher in einer peripheren Interessenlage befunden und so konnten Werner Hoffmanns Darstellung der mittelhochdeutschen Heldendichtung (die von Elisabeth Lienert hinsichtlich der gattungstheoretischen Aspekte trotz ihres Erscheinungsjahres 1974 immer noch als grundlegend angesehen wird) bzw. Heiko Ueckerts Einführung (die freilich den gesamten germanischen Bereich abzudecken suchte) über einen längeren Zeitraum eine gewisse Monopolstellung einnehmen. Dies hat sich in jüngerer Zeit zum Positiven hin geändert, und einer dieser positiven Aspekte ist die Einführung Elisabeth Lienerts aus dem Berliner Erich Schmidt Verlag. Elisabeth Lienert, die an der Universität Bremen arbeitet, hat seit einigen Jahren die verdienstvolle Aufgabe erfüllt, wesentliche Texte aus der Dietrichepik neu zu edieren und einem größeren Publikumskreis (wieder) zugänglich zu machen, und wenn es auch sehr despektierlich wäre, die vorliegende Einführung als eine Art ‚Nebenprodukt‘ dieser Arbeit zu werten, ist es gleichwohl von dieser nicht zu trennen.
Auf knapp 250 Seiten und in zehn Hauptschritten werden wichtige Aspekte sowohl allgemein formaler resp. textkundlicher Art als auch einzelne Dichtungen bzw. Dichtungsschwerpunkte vorgestellt, die gerade auch im Zusammenhang der durch den sogenannten ‚Bologna-Prozess‘ geschrumpften Curricula wohl weit eher selbstständig erarbeitet werden müssen, als dass sie in Einführungsseminaren ausführlich dargelegt werden könnten. In diesem Zusammenhang werden nach einer Grundsatzfrage („Was ist Heldenepik?“) etwa ‚Gattungsprobleme und Gattungsmerkmale‘, aber auch die Fragen nach der Entstehung und Überlieferung heldenepischer Stoffe diskutiert.
Im Folgenden dann werden die einzelnen Epen bzw. Epenkreise vorgestellt, von denen die Dietrichepik – angesichts der Editionsprojekte der Verfasserin bin ich versucht zu konstatieren, fast ‚naturgemäß‘ – mit ca. 50 Seiten am umfangreichsten dargestellt ist. Den Beginn freilich macht der Nibelungenkreis, der neben allgemeineren Einführungen und dem Nibelungenlied selbst in der ‚Klage‘ und dem ‚Lied vom Hünen Siegfried‘ vertreten ist.
Nach ‚Walther und Hildegund‘ (verwiesen sei hier explizit auf die Thematisierung der mittelhochdeutschen Fragmente) und der ‚Kudrun‘ folgt der erwähnte Kreis von Dichtungen um Dietrich von Bern. Hier wird zunächst die ‚historische Dietrichepik‘ in Grundsatz und Einzelbeispielen (‚Dietrichs Flucht‘, Rabenschlacht‘, ‚Alpharts Tod‘, Dietrich und Wenezlan‘, ‚Ermenriks Dōt‘ sowie der Hildebrandsstoff) vorgestellt, bevor die ‚Aventiurehafte Dietrichepik‘ zum Thema gemacht wird. Die Beispieldichtungen ‚Goldemar‘, ‚Eckenlied‘, ‚Sigenot‘, ‚Virginal‘, ‚Laurin‘, der ‚Rosengarten zu Worms‘ und der ‚Wunderer‘ sind knapp, aber für die Zielsetzung angemessen dargestellt, so dass sich die Beschäftigung mit den Arbeiten Joachim Heinzles zur Dietrichepik (auf die Elisabeth Lienert explizit verweist) sicherlich nicht erübrigt, diese sich aber mit Hilfe der ‚Einführung‘ quasi bereits im Vorfeld erschließen lassen. Auch diesem Kapitel schließt sich eine knappe, aber einschlägige Bibliographie an. Etwas irritierend in diesem Zusammenhang erscheint mir, dass Roswitha Wisniewskis ‚Mittelalterliche Dietrichdichtung‘ nicht einmal kritisch Erwähnung findet, was übrigens auch in der insgesamt gesehen für eine Einführung sehr umfangreichen Gesamtbibliographie nicht der Fall ist.
‚Biterolf und Dietleib‘ sowie ‚Ortnit‘ und die ‚Wolfdietriche‘ werden jeweils knapp, aber eingängig und lektürefreundlich dargestellt, bevor der folgende Punkt ‚Heldenbücher und Heldenbuchprosa‘ grundlegende editorische bzw. kompilatorische Aspekte nahebringt.
Anschließend werden unter der Überschrift ‚Heldenepisches Erzählen – heldenepische Sinnkonstruktion‘ stilistische bzw. grundsätzlich ‚anwendungsorientierte‘ Aspekte diskutiert, die etwa die Frage nach dem ‚Sitz im Leben‘ bzw. der Funktionalität dieser mittelalterlichen Gattung in ihrem gesellschaftlichen Kontext zum Thema macht. Der Überlieferungs- bzw. Rezeptionsgeschichte ist das knappe abschließende Kapitel zu ‚Heldenepik und Literaturgeschichte‘ gewidmet, das wichtige Merkstationen darlegt.
Das mit sechsunddreißig Seiten sehr umfangreiche Abkürzungs- und Literaturverzeichnis sowie insbesondere auch das zehnseitige Register runden diese lesenswerte Einführung ab, die mir – insbesondere, aber nicht ausschließlich – als erste Hinführung in das Themengebiet der mittelhochdeutschen Heldendichtung unabdingbar erscheint. Dies und nicht zuletzt auch der für Leserinnen und Leser attraktive Preis der Publikation machen Elisabeth Lienerts Einführung in meinen Augen uneingeschränkt empfehlenswert.