Das Theater ist heutzutage in aller Munde. Der Vater spricht verärgert von dem ewig gleichen Theater, wenn er mal wieder auf die Tochter warten muss, ehe er sie zur Schule fahren darf. Manchem, sich im Strafraum als Schmerzensmann gebärdenden Fußballspieler wirft man schauspielerisches Talent vor. In der Politik ist im Hinblick auf Griechenland wiederum abwechselnd von einem Drama oder aber einer Tragödie die Rede. Mit einem gewissen Recht hielt Shakespeare die Welt dann auch für eine Bühne.
Doch so schön dieser Vergleich auch sein mag, bleibt doch die Frage, wie das Theater bzw. das Theatralische konkret in der europäischen Kultur zum Ausdruck kommt. Dankenswerterweise hat sich nun die vom Slovansky Ustav in Prag herausgegebene Germanoslavica diesem Problem in einem monothematischen Heft angenommen. In mehreren Rubriken wird das Verhältnis von Theatralität zu Kunst und Kultur untersucht.
Selbst wenn es für den kritischen Betrachter eigentlich nicht überraschend sein kann, dass das Theater, ähnlich wie heute der Fußball, in seinen größten Zeiten einen Anstoß zum Merchandising lieferte, ist es doch interessant von Monika Schmitz-Emans zu erfahren, wie man sich früher mit Hilfe eines Papiertheaters oder von Pop-up-Büchern die Bretter, die die Welt bedeuteten, nach Hause holte. Dort, wo man heutzutage das Drama des Spiels in Form der Playstation oder des Tipp-Kicks nachspielbar macht, übernahmen früher jene kunstvoll hergestellten „Spielzeuge“ eine analoge Funktion. Und so wie man heute jede Heldentat der eigenen Lieblinge beliebig oft wiederholen und so abermals genießen kann, brachten die damaligen „Spielzeuge“ nicht nur ein Stück sondern auch seine konkrete Inszenierung mit den entsprechenden Trikots bzw. Kostümen an den Mann.
Ein weiteres spannendes Thema ist die Verknüpfung von erzählender Literatur und Theater. Als Laie mag man ja von getrennten Welten ausgehen, aber die wissenschaftliche Sicht fördert hier doch einige ungeahnte Verbindungen zutage. So hat sich nach Ansicht von Alexander Jakovljevič der Historiker Schiller sehr wohl vom Theater und seinen Gesetzen leiten lassen, als er sich der Geschichtsschreibung hingab. Um es ganz vereinfacht zu sagen, machen bei ihm szenische Darstellungen historischer Ereignisse das Geschehen vorstell- und damit auch fassbar. E.T. A. Hoffmann war offenkundig ebenfalls vom Theater fasziniert. Nach der Untersuchung von Achim Küpper hat er seine Erzählung Don Juan als theatrale Welt gestaltet. Bei dieser allgemeinen Begeisterung ist es denn auch kein Wunder, wenn religiöse Erweckungserlebnisse in einer Zeit, als sich die Kunst jenseits von Thron und Altar zu entwickeln begann, auf die plötzliche, persönliche Leidenschaft für das Theater übertragen wurden. Der Theatermacher wurde, wie Sabine Gruber schildert, regelrecht zu einem bekehrten Paulus.
Es würde jetzt sicher zu weit führen, würde ich alle Aspekte der Verknüpfung von Theater und Literatur und Kultur, von denen in diesem Band berichtet wird, aufzählen. Da es aber neben dem sehr gelungenen Beitrag von Jitka Pavlišová über das heutige Verhältnis von Text und Schauspiel vor dem Hintergrund der Auflösung des traditionellen Theaters auch eine Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus Mukařovskýs gibt (Herta Schmid), möchte ich abschließend doch das erwähnen, was mir fehlte. Letztlich beziehen sich bewusst oder unbewusst alle Texte auf ein Theater, was sich aus der Tradition der alten Griechen herleitet. Das jiddische Theater, das bekanntlich seinem Ursprung dem Purimspiel verdankt, findet da leider keinen Platz. Eine Untersuchung der Beziehungen zwischen Bühnen- und erzählenden Werken Scholem-Alejchems wäre da zum Beispiel eine fruchtbare Ergänzung gewesen. Doch trotz dieser Lücke ist das Heft äußerst lesenswert. Durch die Vielzahl der eingenommenen Perspektiven können wir vielleicht nicht das Drama unseres Lebens bewältigen, aber immerhin verstehen wir besser, warum und wie es unsere Kommunikation prägt.
Die Germanoslavica lässt sich beim Slovansky Ustav bestellen.