Flucht nach vorn
Gesprochene Autobiographie und Materialien

Es stellt in gewisser Weise ein Wagnis dar, wenn die Erinnerungen Andrzej Wirths von einem Nicht-Theaterwissenschaftler, nämlich einem Historiker und Kulturwissenschaftler besprochen werden, dessen Zugang zur Person zum einen aus dem polnischen, zum anderen aus dem Gießener Kontext herrührt. Die Gefahr liegt darin, bestimmte Prozesse und Verknüpfungen in Werk und Person für erstaunlich zu halten, die für Experten schon immer sonnenklar waren. Geht man jedoch davon aus, dass Bücher wie das vorliegende dennoch für einen breiteren Leserkreis geschrieben werden, ist das Erzeugen von Aha-Effekten vielleicht doch legitim.

Andrzej Wirth, 1927 im Städtchen Włodawa im heutigen Ostpolen geboren, zählt zweifellos zu den zentralen Figuren der Theaterwissenschaft im Speziellen und der Beschäftigung mit Theater im Allgemeinen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dramatischen Kindheits- und Jugenderfahrungen – unter anderem während des Warschauer Aufstands 1944, zu dem er bis heute eine eindeutig negative Meinung hat – folgten die Studienjahre in Lodz, in denen er unter dem Einfluss der großen Philosophen Tadeusz Kotarbiński und Władysław Tatarkiewicz bereits die methodischen Grundlagen für sein späteres Schaffen legte, darunter die Befolgung der Theorie des praktischen Tuns. Prägend wurden dann aber vor allem die Kontakte zum Werk Bertolt Brechts, mit dessen Berliner Ensemble er nach 1956 zusammenarbeiten durfte. Weitgehend unbekannt blieben Wirths frühe Mitwirkung an der „Gruppe 47“ sowie seine langjährige Freundschaft mit dem ihm in mancherlei Hinsicht ähnlichen, dann aber wieder grundverschiedenen Marcel Reich-Ranicki. Als Wirth 1966 die Möglichkeit zu einem längeren USA-Aufenthalt erhielt, entschloss er sich dazu, als Wissenschaftler dort zu bleiben. Nach Polen kehrte er bisher nie mehr für längere Zeit zurück, sein Polnisch sei inzwischen etwas eingerostet, schreibt Wirth an einer Stelle. Der Amerikaaufenthalt, der ihn an eine Reihe von Universitäten führte, muss wohl als die wichtigste Phase seines Lebens bezeichnet werden. Der Einfluss der modernen Theatertheorie und der konstruktivistischen Philosophie, die Wirth anwandte, als in der Bundesrepublik noch allenthalben Salonmarxismus im Vordergrund stand, führten unter anderem zu einer Neubewertung von Brechts Werk, etwa des unveröffentlichten „Fatzer“-Fragments. Insbesondere waren es aber die langjährigen Kontakte zu seinem genialen polnischen Landsmann Jerzy Grotowski, zum amerikanischen Theatermacher Robert Wilson sowie zu Heiner Müller, die Wirth stark beeinflussten.

Als die Möglichkeiten jenseits des Atlantiks erschöpft zu sein schienen, ergab sich 1982 für Wirth die unverhoffte Chance, an der Justus-Liebig-Universität Gießen ein Institut für Angewandte Theaterwissenschaften zu gründen, das rasch zumindest unter seiner Führung Weltruhm erlangen sollte. Hier konnte er viele seiner Vorstellungen mit einem relativ kleinen Kreis interessierter Studierender in die Tat umsetzen, und hier begannen u.a. die Karrieren so unterschiedlicher Protagonisten wie Moritz Rinke und René Pollesch.

Wirth ist ein Weltbürger mit biographischen Wurzeln im Polnischen, Russischen und Deutschen, ein lebenslanger Emigrant, Bonvivant und Gigolo. Er kann wunderbar erzählen, etwa Anekdoten über Walter Höllerer und Witold Gombrowicz. Wenn einmal ein Fehler auftaucht wie in der Gleichsetzung des Kulturfunktionärs Stefan Żółkiewski mit dem Ketman-Prinzip in Miłoszs „Verführten Denken“ (S. 60) ist dies eine lässliche Sünde.

Was das Theater angeht, so standen bei Wirth immer Performance und Sprache im Blickpunkt, nicht die Dramatik und Werktreue. Dies erklärt die Attraktivität von Regisseuren wie Grotowski oder Wilson, die dem Nachwuchs eine Vielzahl von Optionen bieten, ohne einem bestimmten Kanon zu verfallen. Die Therapie des Schauspielers kommt dabei vor den Interessen des Zuschauers und die Medialisierung des Theaters sei – auch angesichts des Aussterbens eines kundigen Publikums – sowieso nicht aufzuhalten.

Ein wenig blass bleibt Gießen. Dies ist nun angesichts der mangelnden Strahlkraft der mittelhessischen Universitätsstadt nicht weiter verwunderlich, immerhin lobt Wirth aber die künstlerischen und organisatorischen Freiheiten, die man ihm dort gelassen habe, und er erwähnt die großen Namen, die er in die Stadt holte.

Das Modell der gesprochenen Erinnerungen ist im deutschen Kontext eher unüblich, in Polen sind dagegen solche Bücher unter der Bezeichnung „wywiad-rzeka“ sehr populär. Es bietet die Chance einer strukturierten Erzählung, ohne dass sich der Befragte in seinen Gedanken verliert und unter Umständen auch Belanglosigkeiten notiert. Der redaktionelle Eingriff trägt eindeutig zur Straffung und Pointierung des Berichteten bei. Der Leser sollte jedenfalls nicht davon ausgehen, dass das Interview genau so stattgefunden hat. Vielleicht ist die Biographie an einigen Stellen etwas zu sehr glattgebürstet, die rasche Karriere im Warschauer Nationalmuseum in der Blütezeit des polnischen Stalinismus etwa hätte einer gewissen Erklärung bedurft, aber Wirth besitzt durchaus auch die Fähigkeit zu Selbstkritik und -ironie.

Das Besondere an dem Buch ist sein geniales Layout. Nicht nur, dass die farbliche rot-grün Gestaltung von Frage und Antwort dem Leser entgegenkommt. Die offene Form äußert sich auch in Text- und Graphikeinschüben. In der Mitte des Buches findet sich der Abdruck einer Reihe von Wirths Primärtexten, u.a. sein Aufsatz über Brecht in Polen von 1965. Ergänzt wird der Band durch Kommentare von Schülern und Weggefährten sowie einigen Gedichten aus Wirths Feder. Manchmal ist der Leser dazu gezwungen, das Buch hin- und herzudrehen, um weiterlesen zu können. Und last but not least: der Band hat ein überragendes Lektorat genossen, was heute wirklich keine Selbstverständlichkeit mehr darstellt.