Wiebke Frieses Buch „Die Kunst vom Wahn- und Wahrsagen. Orakelheiligtümer in der antiken Welt“ verspricht bereits im Untertitel einen recht großräumigen Blick auf die Divination und die dazugehörigen Tempel in der Antike. So beginnt Friese nach einem kurzen systematischen Überblick mit der Beschreibung des mesopotamischen, anatolischen, palästinensischen und zuletzt ägyptischen Orakelwesens. Doch bereits der Umstand, dass jene Kulturräume zusammen auf nur zehn von insgesamt 146 Seiten abgehandelt werden, zeigt, dass sie lediglich als Alibi für den Untertitel (… in der antiken Welt) sowie als Rahmenbedingung für die darauffolgende griechische und römische Kultur dienen. Bereits hier offenbart sich also die erste Einschränkung des Werkes: eigentlicher Untersuchungsgegenstand sind lediglich das antike Griechenland und Rom. Diese jedoch werden überaus sorgsam und gut strukturiert dargeboten.
Zunächst widmet sich Friese dem griechischen Orakelwesen und gliedert diesen Teil nach Wichtigkeit der zugehörigen Tempelstätten und Gottheiten. Sie beginnt also mit den apollinischen Heiligtümern in Delphi, Ptoion, Didyma und Klaros und erläutert zum Abschluss die übergeordnete Stellung Apollos für das griechische Orakelwesen.
Daraufhin werden das Zeusorakel von Dodona, verschiedene Totenorakel und die Traumorakel des Heilgottes Asklepios thematisiert, die einen differenzierten Blick auf die altgriechische Mantik werfen und das Phänomen in ihrer Gesamtheit fassbar machen.
Zuletzt wird mit Los- und Buchstabenorakeln ein eher volkstümliches und kostengünstigeres, deswegen auch weit verbreitetes Brauchtum beschrieben, wodurch die Omnipräsenz divinatorscher Praxis in Griechenland hervorgehoben und dem cultural turn Rechnung getragen wird.
In römischer Zeit bleiben viele griechische Orakelstätten zunächst von Bedeutung. Dennoch erfährt die Divinationspraxis eine große Veränderung, welche sich laut Friese am besten mit der Angst eines religiös begründeten politischen Umsturzes erklären lässt. So obliegt die Konsultation von Orakeln – zumindest offiziell – nunmehr gänzlich dem Staat. Dabei fallen insbesondere drei Arten von Wahrsagekollegien ins Gewicht, welche vor allen wichtigen Entscheidungen konsultiert wurden. Dies sind die Auguren, die Haruspices und die Sibillynischen Orakel, welche später vom Christentum instrumentalisiert wurden. Das Überleben paganer Orakelformen in „christlichem Gewand“ bildet den spätantiken Abschluss des Werkes. Das Buch schließt jedoch nicht, ohne darauf hinzuweisen, dass Divinatorisches bis in die heutige Zeit hinein eine Rolle spielt und sich somit durch die Kulturgeschichte Europas zieht.
Alles in allem gelingt es Friese anhand der populärsten griechisch-römischen Beispiele einen guten ersten Eindruck über die Vielfalt verschiedenster Orakeltechniken, deren Präsenz und Verbreitung zu geben. Frieses Werk stellt somit eine fundierte und leicht lesbare Einführungsliteratur dar, die – mit einigen Ausnahmen – auch für nicht kulturwissenschaftlich (aus-) gebildete LeserInnen verständlich bleibt. Der/die wissenschaftliche BetrachterIn wird jedoch das Fehlen von Einzelnachweisen vermissen. Wer also innerhalb dieses Buches auf Informationen trifft, die er/sie nachzulesen, nachzuprüfen oder nachzuvollziehen gewillt ist, ist angehalten die den einzelnen Kapiteln zugeordneten Quellen, nicht selten umfangreiche Monographien, danach zu durchforsten. Lediglich die Belege zu den zitierten antiken Schriftstellern werden in Klammern vor Ort gegeben. Diesem, die wissenschaftliche Recherche erschwerenden Mangel, schließt sich leider noch ein weiterer an: Da ihre Dissertation die Architektur antiker Orakelheiligtümer behandelt, ist Frieses diesbezügliches Wissen sehr fundiert. Ihre Darlegung desselben ist unterdessen oft schwer nachvollziehbar. Zwar liefert sie von den meisten Heiligtümern recht genaue Beschreibungen der Tempelbezirke, verzichtet dabei aber oftmals auf die Erklärung architektonischer Fachtermini. Gravierender noch ist das Fehlen von Grundrissen und architektonischem Bildwerk, so dass der/die LeserIn ganze Orakelkomplexe allein in der Phantasie (wieder-) entstehen lassen muss. Einzige Ausnahme bildet eine Übersicht zum Tempelbezirk von Delphi, die jedoch keine erklärende Legende aufweist. Im Fließtext werden lediglich die wichtigsten Gebäude erläutert. Hier zeigt sich der Charakter des Buches als Überblickswerk. Die (oft farbigen) Bilder, welche darüber hinaus gegeben werden, sind von unterschiedlich starkem Illustrationswert und gelegentlich leicht missverständlich. So ist beispielsweise Abb. 9 mit „Dodona heilige Eiche“ unterbetitelt, obgleich der ehemals verehrte Baum längst Geschichte ist.