«Mein liebes Ilsekind» Mit dem Kindertransport nach Schweden — Briefe an eine gerettete Tochter.

„Hier will ich Dir nur hauptsächlich das schreiben, was ich Dir sonst nicht schreiben kann“ (S. 120) — so Gertrud Reifeisen in einem ihrer Briefe an ihre Tochter Ilse, die im Dezember 1939 im Alter von 13 Jahren mit einem Kindertransport nach Schweden emigriert. Und tatsächlich spielt das Schreiben in der von Elisabeth Cosanne-Schulte-Huxel editierten Ausgabe eine zentrale Rolle: nicht nur als Versuch, der geographischen Distanz ein Stück Intimität entgegenzusetzen und das Trauma der Trennung erzählerisch zu verarbeiten. Gleichzeitig sind die Briefe auch ein wichtiges Zeugnis des wachsenden Antisemitismus im NS-Regime, in dem das Schicksal der Familie Reifeisen stellvertretend für das vieler Verfolgter und Ermordeter steht.

Dieser Doppelbödigkeit Raum zu geben gelingt der Herausgeberin, indem sie zwei Perspektiven, die persönliche, aber auch die historische, in dieser Ausgabe vereint. Die Briefe sind teilweise im Faksimile abgedruckt, dazu bieten Fotografien und Auszüge aus Interviews mit Elise Hallin (geb. Ilse Reifeisen) einen intimen Einblick in die Familiengeschichte der Reifeisens sowie in Elise Hallins Biografie. Aufsätze zur Familiengeschichte, zur Oktober-Deportation 1938 sowie zur Emigration jüdischer Bürger zur Zeit des NS-Regimes ermöglichen darüber hinaus eine historische Einordnung der Briefe. Fußnoten, in denen auf weiterführende Literatur verwiesen wird sowie ein Glossar aller genannten Personen und Institutionen runden den kritischen Kommentar ab.

Die erläuternden Beiträge bilden den ersten Teil der Ausgabe, in dem Fotografie und Text in einem engen, dialoghaften Verhältnis zueinander stehen. Insbesondere im Beitrag von Norbert Reichling zur Deportation polnischer Juden im Oktober 1938 wird dies deutlich: Simon, Gertrude und Ilse werden aus der Heimatstadt Dorsten nach Zbąszyń deportiert und erleben angesichts der chaotischen und katastrophalen hygienischen Zustände im Lager (am „Sammelplatz“ in Zbąszyń kamen am ersten Tag mehr als 10.000 Menschen zusammen), was eine Überlebende als „Sprachlosigkeit“ (vgl. S. 27) beschreibt. Die Anonymität und das Chaos im Lager werden durch ausgewählte Abbildungen visuell artikuliert — Sprachlosigkeit wird hier als Erfahrung plastisch und greifbar gemacht.

Auch im Beitrag von Clemens Maier-Wolthausen zur Emigration jüdischer Bürger und den Kindertransporten steht die enge Verbindung von Bild und Wort im Vordergrund. Pässe, behördliche Korrespondenz und Listen  geretteter Kindern sind im Faksimile abgedruckt, wodurch eine weitere Ebene geschaffen wird: die der Dokumentation. Wie Maier-Wolthausen schildert, sahen sich jüdische Familien in Emigrationsfragen zunehmend mit juristischen und finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert: Jüdische Flüchtlinge galten offiziell nicht als politische Flüchtlinge; dementsprechend hing eine erfolgreiche Emigration sowohl von der finanziellen Lage der Familien als auch von der Unterstützung durch jüdische Hilfskomitees und der „Quote“ eines Landes, welche die Anzahl einreisender Flüchtlinge bestimmte, ab. Der Abdruck von Ilse Reifeisens schwedischem Pass ist hierbei ein Zeugnis jener Ambivalenz, die als „ Unterschied zwischen Leben und Tod — das Überleben aber ein Trauma“ (S. 44) beschrieben wird. Während Ilse aufgrund der „Kinderquote“ im Dezember 1939 nach Stockholm emigrieren kann, gelingt es ihren Eltern wegen fehlender Kontakte und finanzieller Schwierigkeiten nicht, wie geplant über Schweden in die USA auszuwandern. Simon und Gertrud Reifeisen werden im Januar 1942 in das KZ Riga-Kaiserwald verschleppt. Gertrud stirbt 1945 im KZ Stutthof bei Danzig an Typhus, Simon wird 1944 im KZ Kaiserwald ermordet.

Diesem Trauma wird im zweiten Teil der Ausgabe durch das Veröffentlichen der Briefe, die Simon und Gertrud Reifeisen zwischen Dezember 1939 und Januar 1942 an Ilse schreiben, erzählerischer Raum geboten. Faksimile-Abdrucke der Briefe, erläuternde Kommentare und Fotos verschiedener Familienmitglieder eröffnen einen detaillierten und bewegenden Einblick in jene Zeit, die Elise Hallin rückblickend als „Ohnmacht“ (vgl. S. 8) beschreibt: die Trennung von der Familie, ein unbekanntes Land, die Ungewissheit, ob und wann die Eltern ebenfalls emigrieren können. Hierbei ist die sorgfältige Auswahl und Edition aller insgesamt 180 erhaltenen Briefe und Postkarten von Simon und Gertrud Reifeisen besonders gelungen, die Leseerfahrung gestaltet sich persönlich und intim. So berichtet Gertrud Reifeisen von ihren Sorgen über ihren Mann (Simon Reifeisen wird im September 1939 in Gelsenkirchen zusammen mit anderen jüdischen Bürgern der Stadt verhaftet), ist aber dennoch von Optimismus und der Hoffnung geprägt, ihre Tochter gemeinsam mit ihrem Mann und der gesamten Familie in Schweden wiederzusehen: „Ja Liebchen, die Zeit wird ja auch kommen, wo wir wieder beisammen bleiben können & darauf wollen wir uns schon jetzt freuen“ (S. 167).

Neben dieser persönlichen Ebene sind die Briefe jedoch auch ein wichtiges historisches Zeugnis. So ist in einem Brief das Wort „Konzentrationslager“ teilweise geschwärzt (vgl. S. 79), was durch einen Kommentar zur Briefzensur erläutert wird. Auf der anderen Seite benutzen Gertrud und Simon Reifeisen in Absprache mit Ilse ebenfalls sprachliche Codes, um der Zensur zu entgehen. So ist von „Tanta Mia“ (S. 119) die Rede, wenn die Eltern Ilse Geld zukommen lassen, das Ilse verwalten soll. Der Kommentar der Mutter, „du bist ja kein Kind mehr“ (S. 120) illustriert hier besonders drastisch die Lage, in der sich Ilse befindet: sie ist, gemessen an der Verantwortung, die ihr übertragen wird, in der Tat kein Kind mehr und doch schreibt Gertrud Reifeisen auch: „Vati sagte mir noch heute, erinnere in jedem Brief das Kind, daß es sich in Acht nimmt!“ (S. 83)

Dieser Zwiespalt, ein Kind und gleichzeitig doch kein Kind mehr zu sein, zieht sich als roter Faden durch die Briefe. Durch ihre Edition und Veröffentlichung der Briefe ist es Elisabeth Cosanne-Schulte-Huxel das gelungen, was Gertrud Reifeisen ihrer Tochter im Mai 1940 einschärft: „Du weißt, man muss überall in guter Erinnerung bleiben“ (S. 80).