Nach dem Mühlberger–Heft von 2009 erscheint nun eine weitere monothematische Ausgabe der Germanioslavica, dem aus Chemnitz stammenden, in Mörfelden lebenden Peter Härtling gewidmet. Sowohl für polythematische Hefte als auch für solche, die das Schaffen nur eines Autors beleuchten, lassen sich Argumente finden. Wenn die Redaktion sich für ein „Sowohl-als-Auch“ bei Präferenz der „bunten“ Hefte entscheidet, ist das sicherlich ein vernünftiger Kompromiss. Die acht Aufsätze sind aus Vorträgen eines internationalen Symposiums in Göteborg 2011 entstanden, das die dortige Universität und das Slawische Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik gemeinsam ausgerichtet haben. Sie berühren unterschiedliche, bei weitem aber nicht alle Aspekte von Härtlings Œuvre.
Der Band wird mit einem Aufsatz zur Kinderliteratur eröffnet (Anneli Fjordevik: Zum Verhältnis von Kinderliteratur und Erwachsenenliteratur).Die Autorin grenzt einleitend beide Literaturen voneinander ab. Anschließend untersucht sie im Kinderbuch „Das war der Hirbel“, anhand von Komposition, Satzbau und Erzählperspektive die „normative Akkommodation“(EWERS) im Text .Sie stellt fest, dass sich der Autor „nur scheinbar“ an Kinder , in Wahrheit aber an Erwachsene wendet und kindliche Leser mit ihren Fragen allein lässt.
Frank Thomas Grub befasst sich mit dem Essayisten und Publizisten Härtling. Die übersichtliche Gliederung des Aufsatzes nach den von Härtling behandelten Themen macht den Aufsatz recht praktikabel – das gilt auch für die Begriffsbestimmungen und Angaben zur Editionssituation. Knappe Zitate geben der systematischen Darstellung Farbe und motivieren zu eigener Lektüre. Sieben zusammenfassende Thesen schließen den lesenswerten Aufsatz ab.
Martin Hellström beschäftigt sich mit „Auto-Biographischen Annäherungen bei Peter Härtling“ und stellt den Hölderlin-Roman ins Zentrum der Erörterung. Seine These lautet: Die Annäherung des Autors an seinen Protagonisten ist „stets auch eine Annäherung des Erzählers an sich selbst“(S.38). Nun ist es weder eine neue Erkenntnis, noch ein Spezifikum der Schreibweise Peter Härtlings, dass der Autor selbst mit in den Text eingeht. Aber dem Verfasser ist es auch nicht in erster Linie um eine literaturtheoretische Erörterung zum (auto)biographischen Schreiben zu tun – origineller sind die aufgefundenen Parallelen zwischen dem Autor und seinem Protagonisten, ist das Verhältnis von „Annäherung“ und Distanzierung. An diese textnahen Passagen knüpft H. Erörterungen zum Genre den Hölderlin-Textes an: Ist es ein Roman? Eine Dichterbiographie? Von einer „Annäherung“ spricht Härtling selbst, eine Klassifizierung meidend. Auch Hellström legt sich terminologisch nicht fest – schlägt vielmehr vor, von „(auto)biographischem Erzählen“(S.48) zu sprechen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Korrespondenz zwischen Hellströms und Lukáš Motyčkas Aufsatz, dessen Titel allerdings Erwartungen fehlleitet: Er heißt „Das Mitteleuropäertum Peter Härtlings. Einige Bemerkungen zu seinem Schubert-Roman“. Wer eine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Mitteleuropa“ und dessen Schöpfer erwartet hat, wird (wie die Rezensentin) enttäuscht sein. Dafür gerät die Auseinandersetzung mit tradierten Schubert-Bildern im Vergleich zu Peter Härtlings Sichtweise recht informativ. Allerdings stellt – für meinen Geschmack - der Verfasser in ausufernden Fußnoten seine Belesenheit etwas zu penetrant heraus – ob man unbedingt in einer neunzehnzeiligen Fußnote über das Freundschaftsmotiv in der Literatur vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart belehrt werden möchte, stehe dahin.
Mit den beiden besprochenen Aufsätzen korrespondiert auch “Wie wahr ist die Erinnerung?“ von Diether Krywalski. Er bezieht sich vor allem auf Härtlings Kindheitserinnerungen an Brünn und erörtert die These, dass sich ihm „erinnerte Geschichten“ zu „seiner historischen Wahrheit verdichten“(S.50) und kommt seinerseits zu dem Schluss: “Für Peter Härtling ist die Suche nach der historischen Wahrheit über die Wirklichkeit des Erinnerten eine zentrale Motivation und das zentrale Thema seines Schreibens.“(Ebd.).Um die Sonderstellung Härtlings herauszuarbeiten, vergleicht K. dessen Brünn-Erinnerungen mit denen Robert Musils und Robert Aberles. K.kommt zu dem Schluss, dass Härtlings Geschichtsbild subjektiv authentisch und mithin „die kollektive Geschichte, die in der historischen Wissenschaft bewahrt wird [ …] für den sich seiner Kindheit Erinnernden bedeutungslos“ (S.57) ist. K.s Argumentation ist gründlich – das wäre ihm auch dann zu bescheinigen, hätte er wenigstens auf einige der Selbstzitate verzichtet.
Einen Zugang jenseits des vordergründig Biographisch-Autobiographischen hat Edgar Platen gefunden, der sich mit Härtlings „Der Wanderer“ beschäftigt. Auf schönste Weise verbindet sich hier eine Interpretation von Schuberts “Winterreise“ mit der Erörterung von „Fremdheit“ als Daseinsform des Individuums, wie Marx, Kafka, Trakl und Padrutt sie beschrieben haben. Platen offenbart hier aus Anlass des Härtling –Textes eine beeindruckende Weite des Blickes. Aber auch Härtlings “Der Wanderer“ wird mit philologischer Akribie auf seine intertextuellen Bezüge hin abgeklopft: Indem Platen vom Unterwegssein in Zeiten und Räumen, der eigenen Geschichte und epochalen Geschichten spricht, klassifiziert er schließlich das Wanderermotiv als Epochenmetapher. Ein lesenswerter Aufsatz – nicht allein für Härtling- und Schubert-Interessierte.
Das Thema Platens aufgreifend, widmet sich Siegfried Ulbrecht der „unfreiwillige(n) Wanderschaft im Erzählwerk Peter Härtlings“. Im Nachvollzug der Stationen auf Härtlings Lebensweg zeigt sich einmal mehr, wie das 20. Jahrhundert zum Jahrhundert der Völkerwanderungen geworden ist. Härtlings Schicksal ist repräsentativ für die zahlreichen „Wanderer“, die nicht aus eigenem Entschluss den Weg in die „Fremde“ angetreten haben. Ulbrecht reflektiert, wie das „Fremdmachen“ (114) dem Heimatverlust im Vollzug ethnischer Säuberung vorausgegangen ist und dieses Fremdheitsgefühl die Vertriebenen auch in der „neuen Heimat“ gehindert hat, ihre Identität zu finden. “Eine Identitätskrise kann sich auch als Sprachkrise auswirken“(S.127) schlussfolgert Ulbrecht und berührt damit einen wichtigen Aspekt von Heimat – ist doch die Sprache das portative Vaterland des Autors. Ein Problem, das – wie Ulbrecht in einer ausführlichen Anmerkung ausführt -insbesondere für Exilliteratur bedeutsam ist, aber generell auch bei nach 1945 „heimatvertriebenen“ Autoren bedacht werden sollte. Härtling selbst erinnert sich in „Der Wanderer“ an einen Brünn-Besuch 1945, bei dem der zum Schweigen Verurteilte seine Sprachlosigkeit als „dicke Linie zwischen Vertrautem und Fremdem“(S.127) empfindet. Auch in den folgenden Jahren machen ihn der andere Dialekt und die von niemandem geteilte Erinnerung an verlorene Orte zum Außenseiter. So liefert dieser Aufsatz – über den konkreten Anlass hinaus - interessante Denkansätze zum Themenbereich „Vertreibungsliteratur“.
Die eher theoretisch orientierten Beiträge ergänzend, weckt Reiner Neubert mit seinem Aufsatz „‘Ich erzähle mich selbst‘ oder Der Schriftsteller, der das Schreiben hört. Zu drei Büchern Peter Härtlings über die Austreibung (Bozena; Große, kleine Schwester; Reise gegen den Wind)“ Leseinteresse für die von ihm paraphrasierten Texte. Indem er dafür eine Novelle, ein Kinderbuch und einen Roman auswählt, legt er Zeugnis von der großen Palette literarischer Ausdrucksmöglichkeiten Peter Härtlings ab, dessen Œuvre wohl noch der literaturwissenschaftlichen Gesamtschau harrt.
Das vorliegende Heft der GERMANOSLAVICA stellt in der Vielfalt der Handschriften bei gleichzeitiger Konzentration auf bestimmte Aspekte (Autobiographisches Heimat und Heimatverlust, Identität und Fremdheit) einen begrüßenswerten Schritt in diese Richtung dar.