Philosophie und die Potenziale der Gender Studies
Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie

Feministische Philosophie und die Auseinandersetzung mit „Geschlecht“ bekommen in der akademischen Philosophie, vor allem in Deutschland, bislang wenig Aufmerksamkeit. Die philosophische Beschäftigung mit Fragen der Gender Studies findet am Rand der Disziplin oder außerhalb statt, so die These in der Einleitung des Sammelbands mit dem Titel „Philosophie und die Potentiale der Gender Studies“. 

Die Herausgeberinnen Hilge Landweer, Catherine Newmark, Christine Kley und Simone Miller haben im Anschluss an eine Ringvorlesung der Freien Universität Berlin im Sommersemester 2011 fünfzehn Aufsätze zusammengestellt, die ein breites Spektrum der Überlegungen zu dem Verhältnis von Philosophie und Gender abbilden. Die Texte zeigen, dass es Potentiale für einen gegenseitigen fruchtbaren Austausch von Philosophie und Gender Studies gibt, von dem beide profitieren könnten. Das gemeinsame Moment verorten die Herausgeberinnen im kritischen Selbstverständnis, das die Disziplinen gleichermaßen für sich beanspruchen. Dennoch, so durchweg die These in den Aufsätzen, ist bis heute nur wenig aneinander angeknüpft worden.

Wie unterschiedlich dies geschehen kann, zeigt die Vielfalt der gesammelten Texte. Es werden sowohl institutionelle als auch theoretische Fragen der Thematik bearbeitet. Dabei unterscheiden sich die methodischen Herangehensweisen sowie die inhaltlichen Ansätze. In den Beiträgen werden historische Rückblicke und Diskussionen über die Kategorie Geschlecht präsentiert, die Frage nach dem Zusammenhang von Institutionen und feministischer Kritik gestellt sowie neue theoretischen Ansätze erörtert.

Der Untertitel des Sammelbandes lautet „Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie“ und deutet auf sowohl auf die inhaltlichen Fragen als auch den Gesamtzusammenhang der Thematik in Bezug auf die Philosophie hin. Was heißt Zentrum, was bedeutet Peripherie in der Philosophie? Wie lassen sich die Gender Studies im Verhältnis zur Philosophie positionieren? Und was heißt das für die Philosophie?

Im Hinblick auf diese Fragen finden sich bspw. in Aufsätzen von Sigridur Thorsgeirsdottir oder Astrid Deuber-Mankowsky aufschlussreiche Überlegungen. Thorsgeirsdottir vertritt die These, dass es Peripherien innerhalb und außerhalb einer philosophischen Tradition, die als Zentrum gilt, gebe und, dass große Philosophien häufig an Randpositionen, also Peripherien, entstanden seien. „Innerliche“ Peripherie bedeutet eine Randposition am Rande der eigenen Philosophie, „außerhalb“ bezieht sich auf philosophische Traditionen in anderen Teilen der Welt. Am Beispiel eines transnationalen Trainingsprogramms zu Geschlechterstudien demonstriert sie die Potentiale und Dimensionen grenzüberschreitenden Denkens. Die „transformative Erfahrung“ führe bei den Teilnehmenden zu einer „Generierung neuer Erkenntnisse“. Durch das Bewusstwerden des eigenen Standpunktes als lokalen und der Infragestellung von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten könne der Kanon einer Philosophie hinterfragt werden. Die bisher, wenn überhaupt,  als peripher wahrgenommenen feministischen Fragestellungen könnten eine misogyne Philosophie „dekonstruktiv entlarven“ und „konstruktiv“ ein verändertes Erkenntnissubjekt entwerfen. Thorsgeirsdottier zeigt in ihrem Aufsatz wie sich die Verortung von Überlegungen im praktischen wie im theoretischen Sinne „von der Peripherie über Peripherie zum Zentrum“ verschiebt.

Astrid Deuber-Mankowsky zielt mit ihrem Aufsatz „Philosophie außer sich!“ in eine ähnliche Richtung. Philosophie, die die Frage nach Geschlecht stelle, bleibe nicht dieselbe. Feministische Philosophie finde an anderen Instituten statt. Philosophie entwickele sich so außerhalb ihrer Grenzen. Der Konflikt zwischen feministischer Philosophie und Philosophie zeige, dass Philosophie beteiligt sei an der Produktion und Reproduktion von geschlechterkonnotierten, heteronormativen und sexualisierten Metaphern, auch durch die Einteilung in Philosophie und Nicht-Philosophie. Deute man Philosophie als eine Figur der Kritik, die sich mit aktuellen Fragestellungen auseinandersetzt, führe das zu einer Veränderung ihrer selbst: Sexuelle Differenz konfrontiere Philosophie mit Formen des Kontingenten, die Rationalität herausfordere. Um das Verhältnis von Rationalität und Geschlechtlichkeit zu bearbeiten, schlägt die Autorin vor, die Fragen nach Gender, Geschlecht und Sexualität als Fragen des Wissens zu verstehen. Gender solle als „epistemisches Ding“ begriffen werden. Dadurch ergebe sich die Möglichkeit „Gender“ unter philosophischen Gesichtspunkten zu betrachten: z.B. als Diskursobjekte, bezogen auf die Definition des Begriffes selbst oder im Zusammenhang mit Herrschaft, Wissen und Macht.  Astrid Deuber-Mankowsky zeigt in ihrem Aufsatz, der als philosophie Reflexion über die Philosophie selbst gelesen werden kann, welche Potentiale für die Philosophie in der Beschäftigung mit dem Thema Geschlecht liegen und wie sich das Verständnis von „Gender“ ändern kann.

Die exemplarische Darstellung der ausgewählten Texte deutet viele Fragen, mit denen sich feministische Philosophie auseinandersetzt, an. Zugleich spiegeln die Aufsätze den Kontext einer Theoriebildung wider, deren Entstehung und Entwicklung im allgemeinen Kanon nicht oder marginal anerkannt wird. Im Vergleich zu der angel-sächsischen Sphäre oder der französischen Philosophie, auf die viele der Autorinnen Bezug nehmen, hinkt die feministisch-philosophische Theoriebildung in Deutschland hinterher und muss um ihren Geltungsanspruch als Philosophie regelrecht kämpfen.

Dabei steht die Philosophie als Disziplin selbst immer wieder unter Legitimitätsdruck. Den Status als Welterklärerin hat sie schon lange an die Naturwissenschaften abgegeben. Für die Philosophie selbst liegt ein großes Potenzial in der Beschäftigung mit „Gender“: Durch die Bearbeitung aktueller gesellschaftlich relevanter Fragestellungen – und die Geschlechterdifferenz ist weiterhin ein aktuelles Diskussionsthema der Gesellschaft – könnte die Philosophie ihren Geltungsanspruch bekräftigen.

Mit dem Sammelband ist den Herausgeberinnen und Autorinnen eine Zusammenstellung von Aufsätzen gelungen, die die Relevanz einer Beschäftigung mit feministischer Philosophie demonstriert und das theoretische und praktische Potential für die „Zentrums“-Philosophie deutlich macht. Es bleibt zu hoffen, dass an die bisherige Theoriebildung angeknüpft wird und die Potentiale mit weitergehenden Überlegungen ausgeschöpft werden. Die Auswahl der Texte stellt hierfür eine gute Basis dar.