Bulgarisch-deutscher Kulturtransfer ' handelt es sich hier nicht um eine Marginalität im Dschungel des internationalen Übersetzungsgeschäfts? Mitnichten. Bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich in Folge der wirtschaftlichen und politischen Expansion Deutschlands in Südosteuropa ein deutlicher deutscher Kultureinfluss auf die Balkanregion entwickelt, der um die Zeit des Ersten Weltkriegs seinen Höhepunkt erreichte (vgl. S. 205). In den folgenden einhundert Jahren hat sich eine Tradition des bulgarisch-deutschen Kulturaustauschs entwickelt, im Zuge derer der bulgarischen Germanistik zusehends die Rolle der Kulturvermittlerin zugefallen ist.
Als Fortsetzung und Beitrag zu dieser Tradition ist im Anschluss an die Landeskonferenz des Bulgarischen Germanistenverbandes 2007 in Veliko Tărnovo der vorliegende Sammelband entstanden. Sein Erscheinungsjahr markiert mit der europäischen Integration Bulgariens eine historische Wende. Der Verband hat es sich entsprechend zum Ziel gesetzt, mit seiner Arbeit am Kulturtransfer die internationale Integration zu fördern. Kultureller Transfer setzt interkulturelle Kommunikation voraus. Fremdsprachige Kommunikation ist immer zugleich latente Übersetzung und Übersetzung unter diesem Gesichtspunkt hat auch in einer von Mehrsprachigkeit geprägten Gegenwart nichts von ihrer Relevanz eingebüßt (vgl. S. 9). Die Diskussion übersetzungsrelevanter Fragestellungen ist mithin ein fester Bestandteil der Integration und erlebt derzeit eine Renaissance in Lehre und Forschung. Dazu gehört unabdingbar die Weiterentwicklung der Kompetenzen im Bereich des sprachlichen Transfers, namentlich hervorragender Sprachkenntnisse sowie eines möglichst umfangreichen kulturellen Hintergrundwissens. In den vergangenen Jahren ist es modern geworden, interkultureller Kompetenz Vorrang vor linguistischer Kompetenz zu gegeben. Und so werden auch im vorliegenden Band Kontrastivität und Interkulturalität als diejenigen Aspekte postuliert, unter denen die Sprachwirklichkeit zu erfassen ist.
Die Beiträge der bulgarischen Germanisten und Germanistinnen setzen sich zum Ziel, vor dem Hintergrund prinzipieller Fragestellungen der Übersetzungswissenschaft spezifische inter- und transkulturelle Phänomene zu diskutieren. Dabei ist die Auswahl der Themen ebenso vielfältig wie die methodische Herangehensweise der Autoren. Kaleidoskopartig, aber doch nicht willkürlich, eröffnet sich vor dem Leser das ganze Spektrum übersetzungsrelevanter Fragestellungen ' von historischen Übersetzungsmethoden über kulturpolitische Betrachtungen bis hin zu aktuellen Themen von sprach- und übersetzungspraktischer Relevanz.
Die Beiträge sind in drei große Teilbereiche gegliedert. Teil I ist ganz der Dichotomie von Verfremdung und Angleichung und der mit ihr eng verbundenen Frage nach dem 'Wie' der Übersetzung ' verstanden als Sprach- und Kulturtransfer ' gewidmet (vgl. S. 9). Die langjährige Diskussion über die viel zitierte Pflicht des Übersetzers zum Verfremden, mit der Schleiermacher die Wende der europäischen Übersetzungsgeschichte einläutete, wird auch im vorliegenden Band aufgegriffen und gewürdigt. Teil II beschäftigt sich mit dem kulturellen, sprachlichen und ästhetischen Transfer zwischen Bildern, Medien und Welten (vgl. S. 10). Die Untersuchungen dieses Teils bedienen sich verschiedener Korpora der schöngeistigen und fiktionalen Literatur. Obgleich eingangs festgestellt wird, dass literarische Texte in der Realität nur einen sehr geringen Anteil am tatsächlichen Übersetzungsaufkommen haben, erweisen sich die ausgewählten Märchen, Gedichte und Aphorismen als eine ergiebige Fundgrube für die Untersuchung unterschiedlichster Aspekte der Übersetzungspraxis. Der dritte Teil widmet sich der Problematik der Übersetzung bestimmter Fachtextsorten unter der besonderen Berücksichtigung der kulturspezifischen Textsortenkonventionen, der situativen Einbettung der Texte und der pragmatischen Übersetzungsbedingungen (vgl. S. 11). Hier geht es um grundsätzliche Fragen zur Übersetzung institutioneller Texte, einem bedeutenden und vor allem äußerst praxisrelevanten Teilgebiet der Übersetzung, dem im bulgarischen Übersetzungsdiskurs bisher noch nicht genügend Aufmerksamkeit gezollt wurde. Es ist daher begrüßenswert, dass die Arbeit an pragmatischen Fachtextsorten wie etwa Bedienungsanleitungen, die seit Langem ein fester Bestandteil deutscher übersetzungswissenschaftlicher Curricula ist, auch in der bulgarischen Übersetzungskultur Fuß zu fassen beginnt.
Insgesamt zeichnet sich dieser bunt zusammengestellte Sammelband durch seinen konsequent sprachenpaarbezogenen, komparativen und kontrastiven Ansatz aus. Er ist erfrischend, abwechslungsreich und kurzweilig und auch für den interessierten Laien gut zu lesen und in weiten Teilen verständlich formuliert, aber dennoch fachlich und wissenschaftlich fundiert. Die Beiträge geben einen Überblick sowohl über den Stand der Forschung als auch über die Vielgestaltigkeit der Übersetzungstätigkeit im Rahmen der bulgarischen Germanistik und lassen den Leser die Begeisterung der Autoren für ihr Geschäft spüren, so dass man sich gern auf einen Streifzug durch die bulgarisch-deutsche Geisteslandschaft mitnehmen lässt.
Die Autoren haben gründliche, ja zum Teil akribische Arbeit geleistet: Sämtliche Facetten des übersetzungswissenschaftlichen Diskurses wurden erfasst, alle namhaften Übersetzungswissenschaftler zitiert, keins der zentralen Schlagwörter des fachwissenschaftlichen Diskurses vom Skopos bis zur Realie wurde ausgelassen. Doch während es einigen Autoren darüber hinaus gelingt, neue Denkanstöße zu geben und mit ihren erfrischend unkonventionellen, ja zum Teil sogar gewagten Thesen die aktuelle Methodendiskussion zu beleben und zu bereichern wie etwa Emilia Staitschevas Beitrag zur Verschmelzung fremder und eigener Lebenserfahrungen und literarisch-ästhetischer Normen im Porträtgedicht (S. 91) oder Nikolina Burnevas Reflexionen über den 'Übersetzer als Verstehensprofi' (S. 99), kommen andere Beiträge noch etwas brav und lehrbuchmäßig daher. Zahlreiche Untersuchungen, wie etwa Marin Petkovs Analyse der Alliterationen in den Harry-Potter-Romanen (S. 153), erschöpfen sich in einer bloßen Auflistung und Kategorisierung von Übersetzungsphänomenen und -entscheidungen und versäumen es, ihre Betrachtungen mit einer Bilanz des Wesentlichen in ein aussagekräftiges Fazit münden zu lassen, das dem übersetzungswissenschaftlichen Diskurs neue, zukunftsweisende Impulse geben könnte. Dennoch bleibt der Band eine Fundgrube an Denkanstößen und Fallstudien und ist für Philologen, Übersetzer, komparatistisch interessierte Sprach- und Kulturwissenschaftler, Didaktiker und vor allem natürlich Studierende gleichermaßen von großem Interesse ' nicht zuletzt dank der umfangreichen weiterführenden Literaturangaben im Anschluss an jeden Beitrag.
Die Begegnung mit und die Durchdringung von Vertrautem und Fremden, die sich unter der Überschrift 'Kulturtransfer' wie ein roter Faden durch alle Beiträge zieht, ist für Theoretiker und Praktiker gleichermaßen faszinierend. Im Zentrum steht der Kulturtransfer zwischen Bulgarien und Deutschland; doch viele der behandelten Themen sind von allgemeiner übersetzungstheoretischer und -praktischer Relevanz. Einziges Manko an dieser Stelle: Viele Zitate bleiben unübersetzt und somit ein Geheimnis für den Leser, der nicht mit dem Bulgarischen vertraut ist und einige der Argumentationsketten daher nicht lückenlos nachvollziehen kann. Der skizzenhafte Charakter der Beiträge, typisch für einen Tagungsband, macht neugierig auf eine Weiterführung der Diskussion und eine Vertiefung der Themen. Da die Übersetzung in Bulgarien lange Zeit ein Schattendasein geführt hat, ist ihre Renaissance in Lehre und Forschung im Rahmen der Germanistik ' leider noch nicht als eigenständige Disziplin ' durchaus begrüßenswert. Man darf auf eine Fortsetzung des Austauschs gespannt sein.