Ernst Jüngers Kriegstagebuch 1914-1918

Die Tagebuchnotizen, die der neunzehnjährige Kriegsfreiwillige Ernst Jünger im Dezember 1914 begann und infolge einer Verwundung erst im September 1918 beendete, sind eine der wichtigsten Quellen zur Westfront des Ersten Weltkrieges. Als Infanterist schildert Jünger über einen außergewöhnlich langen Zeitraum hinweg das Alltagsgeschehen an und hinter den Kampflinien in Frankreich mit einer Dichte und Konsequenz, die andere Kriegsberichte selten aufweisen.
Helmuth Kiesel, der Herausgeber der innerhalb eines Jahres schon zum zweiten Mal aufgelegten Jüngerschen Notizbücher, sieht deren Editionswürdigkeit in ihrer 'Wahrnehmungsauthentizität' (S. 597). Diese ergibt sich aus der beinahe sofortigen und ' fast ' ungeschliffenen Niederschrift des Erlebten und zeichnet sie gegenüber den später erschienenen, mehrfach überarbeiteten 'Stahlgewittern' aus. Dabei ist es weniger das von Jünger Wahrgenommene selbst als die Form seiner Darbietung, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und nach seiner Haltung zum Geschehen, auch nach seiner mentalen Verfasstheit fragen lässt.
Denn Jünger, der aus seiner Erregung angesichts anstehender Gefechte keinen Hehl macht (S. 96, 100), ohne dabei die aus dieser Situation erwachsenden Ängste und Albdrücke zu leugnen (S. 102, 162), pflegt einen äußerst abgebrühten Stil: Der Blick dieses Jugendlichen auf das Menschenschlachten irritiert durch seine klinische Distanziertheit, auch wenn diese teils mit der allmählichen Gewöhnung an das Geschehen (S. 113), teils mit der Attitüde des professionellen Soldaten und Offiziers zu erklären sein mag. Jünger begriff den Krieg offenbar in der Tat zunehmend als Arbeit (S. 107f., 507), die der Militärhistoriker John Keegan einmal mit der eines Arztes verglichen hat, der gegenüber Tod und Schmerzen seiner Patienten leidenschaftslos bleiben muss. Dass Jünger, der unter denkbar makabren Umständen anatomische Kenntnisse erwirbt, diesen Vergleich auch selbst anstellt (S. 99, 143), verblüfft insofern kaum. Seine selbst in den Schützengräben akribisch komplettierte Käfersammlung passt zu dieser fast wissenschaftlichen Art, verleiht seiner Selbstdarstellung im gegebenen Kontext allerdings einen fast kafkaesken Zug.
Einzelne Passagen sind wohl nur zu erklären, wenn man Jünger abnimmt, dass eine seiner Haupteigenschaften 'Gleichgültigkeit' gewesen sei (S. 137), die in eine morbide Manieriertheit umschlagen konnte: 'Heut nachmittag fand ich in der Nähe der Latrine [...] zwei noch zusammenhängende Finger- und Mittelhandknochen. Ich hob sie auf und hatte den geschmackvollen Plan, sie zu einer Zigarettenspitze umarbeiten zu lassen. Jedoch es klebte [...] noch grünlich weißes verwestes Fleisch zwischen den Gelenken, deshalb stand ich von meinem Vorhaben ab.' (S. 51) Tagebucheinträge wie dieser lassen auch erkennen, dass Jünger früh an eine literarische Verwertung seiner Notizen gedacht haben dürfte.
Dass Jüngers Umgang mit seinem Kriegserlebnis polarisiert und dies auch mit der Rohfassung seiner Aufzeichnungen tun wird, ist nicht neu und hier nicht zu erörtern. Ihre Edition indessen ist vorbildlich, mit einem Anmerkungsapparat versehen, der allen Stichproben standgehalten hat und vom Herausgeber angemessen historisch kontextualisiert. Im Hinblick auf Jüngers Haltung zum Krieg hat Helmuth Kiesel insbesondere zu Recht versucht, den Bezug zu der verbreiteten 'bellizistischen Stimmung' (S. 603) um 1914 herzustellen, die als 'Augusterlebnis' besser bekannt ist. Für künftige Forschungen zum Werk Ernst Jüngers und zum Ersten Weltkrieg im Westen dürfte der Band unentbehrlich sein.