Belgien gehört zu den etwas verkannten Nachbarn der Bundesrepublik im Westen, von denen man gemeinhin annimmt, dass Deutschland ein unproblematisches Verhältnis zu ihnen pflegt. Das spiegelt aber allenfalls ' und keinesfalls uneingeschränkt ' die Situation des letzten halben Jahrhunderts wider, nicht die Beziehungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der 2. August 1914 hatte die nachbarschaftlichen Beziehungen auf traumatische Weise zerstört, als das Deutsche Reich unter Verletzung der garantierten Neutralität über Belgien hergefallen und es anschließend vier Jahre lang besetzt gehalten hatte. Im Mai 1940 sollte sich derselbe Vorgang dann noch einmal wiederholen.
Die 2008 an der Universität Jena angenommene Dissertation des heute in Lüttich wirkenden Christoph Brüll beleuchtet die schwierige Wiederannäherung des belgisch-deutschen Verhältnisses zwischen der Befreiung von der deutschen Okkupation 1944 bis zur Ratifizierung des deutsch-belgischen Ausgleichsvertrags Ende der 1950er Jahre. Er unterteilt diesen Zeitraum in zwei Abschnitte, deren erster die Zeit bis 1949 behandelt. Hier trat das durch die sogenannte Königsfrage innerlich zerrissene Belgien vergleichsweise aktiv gegenüber dem besiegten Deutschland auf. So wurde eine belgische Beteiligung an der Besatzung Deutschlands beschlossen, die dann tatsächlich bis 2005 andauern sollte. Die zweite große Frage dieser Jahre bezog sich auf Reparationen bzw. territoriale Kompensationen. Beides war schon nach dem Ersten Weltkrieg diskutiert worden und hatte zum Anschluss der deutschsprachigen Gebiete um Eupen und Malmedy an Belgien geführt. Belgische Annexionsforderungen erschienen jedoch nach der Etablierung der Bundesrepublik im Jahr 1949 und den Perspektivwandlungen des Kalten Krieges in einem anderen Licht. Damit beginnt die zweite Phase der Kriegsfolgenbewältigung im deutsch-belgischen Verhältnis, die von einer insgesamt erstaunlichen Konsolidierung geprägt war. Keine acht Jahre später wurde ein Ausgleichsvertrag unterzeichnet und waren Bundesrepublik und Belgien zu gemeinsamen Motoren des europäischen Einigungsprozesses geworden.
Dem Autor geht es in seiner sehr detaillierten Darstellung nicht nur um die diplomatischen Ebenen, sondern auch um die 'Empfindungen des Eifelbauern' (S. 12), also um die konkreten Auswirkungen der Verhandlungen für die Grenzbevölkerung. Brülls Buch hat dabei den Charakter eines Grundlagenwerks. Es verarbeitet nahezu sämtliche verfügbaren Quellen (auch Zeitzeugengespräche) zu einer intensiven Studie über eine gebeutelte, gleichwohl meist im Windschatten der Weltpolitik stehende Grenzregion bzw. Beziehungsgeschichte. Mehr über sie und ihre historischen Belastungen zu wissen, sollte zu den Imperativen des zusammenwachsenden Europas gehören, gerade weil sie ein in manchem vorbildliches Beispiel dafür ist, wie das konfrontative Zeitalter des Nationalismus auf Makro- wie Mikroebenen hat überwunden werden können. Brüll lässt freilich keinen Zweifel daran, dass all diese Prozesse über gewundene Wege verliefen, sehr langwierig waren und längst nicht als vollständig gelöst angesehen werden können.