Struktur und Geschichte der Comics
Beiträge zur Comicforschung

Fragte man vor einigen Jahren noch, ob es eine Comic-Wissenschaft gebe, geht der von Dietrich Grünewald im Bachmann Verlag erschienene Band Struktur und Geschichte der Comics: Beiträge zur Comicforschung davon als Tatsache aus. Auch wenn es noch keine eigenständige wissenschaftliche Disziplin Comic Studies gibt, so erkennt man aber deutlich die steigende Präsenz des hybriden Mediums in den geisteswissenschaftlichen Fachrichtungen und eine allmähliche wissenschaftliche (institutionelle) Etablierung dieser Forschung ' genannt seien hier, zum Beispiel, Veranstaltungen in den BA- und MA Studiengängen der Fremdsprachenphilologien oder die Kulturwissenschaften/Cultural Studies sowie die Kunstwissenschaften, die sich mit dem Medium kritisch auseinandersetzen. Die Didaktikforschung zum Fremdsprachenunterricht und zum Spracherwerb (inklusive des Bild-Textverstehens) hat einen entscheidenden Beitrag zu dieser Entwicklung in den Geisteswissenschaften geleistet.
Die Rezeption von Comics im öffentlichen Diskurs (besonders in den USA) hat sich seit den 1950er Jahren deutlich verändert. Einer anfänglichen 'Schmutz- und Schund-Debatte' folgte in den 1970er Jahren eine sich seit dem exponentiell entwickelnde 'sachliche' Beschäftigung mit dem Medium. Und ein Blick in die ' internationalen ' Datenbanken zeigt, dass sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Comics ebenfalls verändert hat: in Form von Dissertationsprojekten, in Form von Artikeln, und seit den 1990er Jahren noch stärker in Form von eigens für diesen Gegenstand initiierten Zeitschriften, Internetforen und Konferenzen. Dass sich das Medium langsam zu einem relevanten Untersuchungsgegenstand in der Wissenschaft etablierte, heißt aber noch lange nicht, dass sich Comics einer allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz gegenüber sahen/sehen. Dietrich Grünwald, Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, macht dies gleich in seinem Vorwort deutlich.
Dieser hier nur skizzierte Wechsel in der geisteswissenschaftlichen Comicforschung ist kulturhistorisch erklärbar. Das elitäre Verständnis von 'Kunst' und 'Kultur' wurde ordentlich durcheinander gewürfelt in den frühen 1960er Jahren. Ob ('neunte') Kunstform oder nicht, Comics sind (massenmediale) kulturelle Phänomene, und kulturelle Phänomene, das haben uns britische Soziologen und Philologen wie Stuart Hall und andere gelehrt, können ' und müssen ' ebenso durchleuchtet und sozio-historisch kontextualisiert werden wie andere kulturelle Phänomene und Praktiken. Dies nimmt Grünewald als Prämisse für seinen Beitrag im Sammelband, der den Auftakt für die folgenden Themenbereiche bildet. So schreibt Grünewald in 'Das Prinzip Bildergeschichte' richtig, dass ein Comic ein 'ästhetisch-geistiges Kreativprodukt' mit 'kulturellem Stellenwert' ist, das kritischer, interdisziplinärer, oder besser, pluri-methodischer Analysen der 'polyvalenten Funktionen und aktiv-interpretativen Rezeptionsanforderungen' bedarf. Sein Fazit: es muss 'sich ein eigenes Methodeninstrumentarium ausbilden, das z.B. kunstwissenschaftliche, literaturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Ansätze miteinander verbindet'.
Der Sammelband nähert sich dem Medium Comic von vielfältigen Blickwinkeln. In ihren verschriftlichten Vorträgen der ComFor Tagungen der letzten Jahre beschäftigen sich die Autor/-innen nicht nur mit formästhetischen Fragen des Mediums, sondern auch mit terminologischen Problemen; in weiteren Beiträgen in diesem Sammelband reflektieren sie methodologische Schwierigkeiten und Herausforderungen und betten ihre Untersuchungen in historische Kontextualisierungen ein. Forschungsfrage und Untersuchungsgegenstand variieren in den einzelnen Beiträgen, von denen hier nur eine Auswahl vorgestellt werden kann.
Die Frage wie Handlung vermittelt wird, steht im Zentrum von Marianne Krichels Beitrag 'Erzähltheorie und Comics'. Wie der Titel bereits andeutet offeriert Krichel mit ihrer Analyse der Informationsvermittlung in Comics eine literaturwissenschaftliche Herangehensweise. Narratologische Konzepte wie Fokalisierung und Erzählinstanz stehen dabei ebenso im Fokus ihres Interesses wie Zeit- und Raumstruktur und die Bild-Text-Relation. Krichel zeigt wie sich Kategorien anderer Gattungen auf das Medium Comic übertragen lassen; sie tut dies aber auch, um die Grenzen der 'traditionellen' Erzähltheorie aufzuzeigen und die 'medienspezifischen Besonderheiten' der erzählerischen Vermittlung in Comics zu durchleuchten.
Die Nähe zwischen Comic und Film wurde bereits von Francis Lacassin (1972) in Frankreich und im deutschen Wissenschaftskontext von Wolfgang Kempkes (1969/70) besprochen. Burkhard Ihme widmet sich dieser 'Verbindung' in seinem Beitrag zu 'Montage im Comic: Spezifische Nutzung eines Erzählmittels'. Ihme postuliert jedoch keine einseitige Beeinflussung des Medium Films auf das Medium Comic. Er möchte stattdessen die formalen Unterschiede zwischen Comic und Film deutlich machen und die gestalterischen 'Stärken' des Comics aufzeigen.
Der Sammelband offeriert aber nicht nur filmsemiotisch geprägte oder literaturwissenschaftliche Ansätze. In 'Comics und kulturelle Globalisierung' beispielsweise lenkt Bernd Dolle-Weinkauf die Aufmerksamkeit auf das populäre ' und 'transkulturelle' ' Phänomen Manga. Eine der Fragen, die ihn in seiner Untersuchung darstellungsästhetischer Verfahren beschäftigen, lautet: 'Kann man sich ernsthaft angesichts der transkulturellen Prozesse, ' daran machen, unter Berufung auf Kronzeugen aus dem 18. und 19. Jh. idealtypische 'asiatische' und 'westliche' Comic-Erzählstile zu bestimmen?' Und weiter: '[M]uss man nicht auch und gerade in der Geschichte des Comic Prozessen Rechnung tragen, die wir mittlerweile als kulturelle Globalisierung zu bezeichnen pflegen?' Ein wichtiges Ergebnis seiner kulturwissenschaftlichen Untersuchung lautet, dass das 'Fremd- und Eigenkulturelle[] im Manga bereits seit langem eine innige Verbindung [eingeht], die anscheinend bereits von den Lesern in Fernost selbst nicht mehr als Kompositum wahrgenommen wird'. In diesem Zusammenhang soll ein weiterer Beitrag genannt werden, der sich der 'Manga-Kultur' widmet: Stephan Köhns 'Japan als Bild(er)kultur'. Köhn lenkt in seinem Artikel über das 'Besondere' an Manga und Anime den Fokus auf die Tradition der visuellen Narrativität in Japan, um zu zeigen, dass 'eine narrative Visualität ' bei der das Handlungsgeschehen primär über die Bildinformation gesteuert wird' sich erst langsam herausgebildet hat und immer noch bildet. Köhn postuliert weniger eine progressive Entwicklung des Genres in Abhängigkeit von amerikanischen Comics als vielmehr ein durch einen medialen Wechsel verursachten 'Paradigmenwechsel im Erzählen mit Text und Bild'.
In seiner Darstellung zu visuellen Stereotypisierungen des 'Anderen' in Comics untersucht Oliver Näpel Comics als 'mentalitätsgeschichtliche und geschichtskulturelle Quelle'. Diese Quelle bedarf deshalb einer kritischen Reflektion, weil sich dort 'zeitgenössische Vorstellungen von Fremdheit ' ethnischer wie zeitlicher ' niedergeschlagen haben, wobei auch das Spannungsfeld 'Spiegelung verbreiteter Vorstellungen oder normative Verfestigung' Berücksichtigung gefunden hat'. Näpel skizziert zunächst Identifikationsangebote in visuellen Repräsentationen des 'Anderen', erläutert dann Feind- und Gegenbildkonstruktionen und reflektiert anschließend die Bedingungen dieser Konstruktionen des Fremden. Unterstützt werden seine Überlegungen durch zwei gelungene Modelle zu Wahrnehmungs- und Konstruktionskreisläufen, in denen sowohl Lesersoziologie, Enkodierungsstrategien seitens der Produzenten sowie Darstellungskonventionen erklärt werden.
Abschließend soll hier noch Detlev Gohrbandt genannt werden. Bei ihm treten die 'Wandlungen der Suppenkaspar-Geschichte in englischen Struwwelpeter-Satiren' ins Zentrum. Hintergrund für sein Interesse an einem (inter-) kulturellen Textvergleich ist die 'Verschiebung' der pädagogischen Logik in den Originalcomicgeschichten zu Beginn des 20. Jahrhunderts hin zu einer 'politischen Ethik' in den britischen Satiren. Etwas anders formuliert, Gohrbandt zeigt wie diese Logik 'von den britischen Bearbeitern zum Zwecke einer aktuellen politischen Aussage aufgenommen und umgewandelt werden, also wie das Pädagogische zum Politischen wird'.

Ein kurzes Schlusswort: Lesersoziologie, Erzähltheorie, Rezeptionsästhetik, Transmedialität, Intermedialität ' dies sind nur einige der Vielzahl differenzierter Aspekte und Forschungsansätze, die Grünewalds Sammelband anbietet. Mit seinem Methodenpluralismus und seiner Interdisziplinarität leistet der Band damit einen sehr wichtigen Beitrag in der Comic-Wissenschaft und bietet Studierenden wie Lehrenden (und selbstverständlich auch den nicht-akademischen Lesern und Leserinnen) ein ausgezeichnetes Referenzwerk für weiterführende Lektüre und Forschungsprojekte. Grünewalds ' im Vorwort formuliertes ' Ziel, mit dieser Publikation eine Plattform zu schaffen, die heterogene Comic-Community zusammenzuführen, ist damit mehr als erreicht.