Als Martin Seel, Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt, im September 2009 seine Aphorismensammlung 'Theorien' im S. Fischer Verlag herausbrachte, stieß er bei Kollegen und Rezensenten auf lebhaftes Interesse. Das Buch, das aus 517 teils einzeiligen, teils seitenlangen Kurztexten besteht, wurde pünktlich zur Buchmesse in mehreren überregionalen Zeitungen wie der 'Frankfurter Rundschau' (Harry Nutt, 18.9.2009), der 'FAZ' (Andreas Platthaus, 14.10.2009) oder der 'Süddeutschen Zeitung' (Johan Schloemann, 22.10.2009) besprochen. Trotz unterschiedlicher Herangehensweisen stimmten die Kritiker darin überein, dass sich Seels Ausflug auf das 'fußnotenfrei[e], halbliterarisch[e] Feld des Denkens' (1) wohltuend von der üblichen Akademiker-Prosa abhebe. Der Band wirke 'erfrischend und frech', weil sich in ihm 'das Ich hervortraue' (2) und weil es der Autor 'ernst ' mit der aphoristischen Haltung' (3) meine. Das sei keineswegs überraschend, habe Seel doch schon früher essayistisches Talent durchblicken lassen, etwa in seiner 'Ästhetik der Natur' (1991), den 'Ethisch-ästhetischen Studien' (1996) oder im 'Handwerk der Philosophie' (2001). Außerdem weise seine Publikationsliste einige Arbeiten zu Theodor W. Adorno ' dem Verfasser der 'Minima Moralia' ' auf, was eine gewisse Vertrautheit mit 'der kleinen Form' (4) andeute. Unklar war den Feuilletonisten hingegen, wie Seel schriftstellerisch zu verorten sei. Siedelte ihn der eine zwischen Cioran, Canetti und Handke (5) an, verglich ihn der andere mit den französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts (6). Darüber hinaus wurde seine Publikation in die Nähe von 'Nietzsches fragmentierten Büchern' (7) und Wittgensteins 'Philosophical Investigations' (8) gerückt. Angesichts derart abweichender Einordnungsversuche scheint es angebracht, sich nach einen knappen halben Jahr nochmals dem Buch zuzuwenden, um seine aphoristische Qualität auszuloten.
Hier sticht zuallererst der minimalistische Titel ins Auge, dessen Schlüssel im Plural zu suchen ist. Er weist auf die mittlerweile oft wiederholte Einsicht hin, dass eine umfassende Theorie, d.h. ein philosophisches System, ein für alle Mal überholt sei. Daran lässt Seel keinen Zweifel, wenn in einem der einleitenden Aphorismen auf die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Begriffs θεωρία (dt. 'Schau des wohlgeordneten Ganzen') zu sprechen kommt: 'Das Wort 'Theorie' stand einmal für das Vermögen, in einem alles und alles in einem zu sehen. Wer jedoch das Eine nicht zu schauen vermag (und manches spricht dafür, dass niemand es kann), darf sich an vieles halten. '' (Nr. 4). Dies zielt darauf ab, kein Gedankengebäude zu errichten, sondern eine Fülle von bruchstückhaften Anschauungen zu präsentieren. Insofern führt derjenige, der 'Theorien macht', wie es der Autor für sich in Anspruch nimmt, 'eine Art Rosenkrieg mit der Wissenschaft' (Nr.2). Hierfür hätte Seel kein besseres Medium als den Aphorismus wählen können. Zum einen ist die Gattung ' das zugrunde liegende Verb άφορίζειν steht für 'bestimmen, abgrenzen, unterscheiden, definieren' ' der strengen Begriffsdifferenzierung verpflichtet, zum anderen hat sie sich in der Frühen Neuzeit, spätestens jedoch im 19. Jahrhundert von ihrer Etymologie befreit. Wie θεωρία hält der Aphorismus seine wissenschaftliche Herkunft (z.B. in den Lehrsätzen von Hippokrates, Francis Bacon und Herman Boerhaave) in Erinnerung, ist nun aber zum Inbegriff des Anti-Systematischen geworden. Als 'Lyrik der Vernunft' (Erwin Chargaff) verbindet er 'Bestimmung' mit 'Unbestimmtheit' (Nr. 3) und oszilliert zwischen 'Kontemplation' und 'Zerstreuung' (Nr. 6). Dieser dialektischen Form des Denkens entsprechen auch Seels Leitmotive: Offenheit, Freiheit, Unabgeschlossenheit. Das wird vor allem dort deutlich, wo er das 'Spiel der Möglichkeiten' (Nr. 62) betont, sei es in seinen ethisch-ästhetischen oder in seinen epistemologischen Reflexionen. So ist es ihm beispielsweise ein dringendes Anliegen, Konzepte des 'richtigen Lebens' und der 'wahren Erkenntnis' ad acta zu legen: 'Mit einem reinen Ja oder Nein kann nur der Würfel dienen, an den wir unser Geschick delegieren' (Nr. 67). Puristischen Moralvorstellungen hält er den Gedanken der 'Balance' (Nr. 51) entgegen, wobei er sich nicht zwischen der aristotelischen Mesotes-Lehre und stoischer Enthaltsamkeit entscheiden kann. Hierzu seien nur zwei Textbeispiele genannt: 'Tugenden sind Laster, die ihr Schlimmstes nicht ausleben; Laster sind Tugenden, die ihr Bestes versäumen' (Nr. 96) bzw. 'Selbst auf die Askese muss man sich einlassen' (Nr. 59). Seel lässt sich treiben, meint aber im Strom gegen ihn zu schwimmen. Solchen Widerspruchsgeist zeigt er in der Auseinandersetzung mit seinem Vorgänger Immanuel Kant. Mag ihm die transzendentale Methode ' also das Denken des Denkens ' auch unverzichtbar erscheinen, so möchte er doch dessen 'Ding an sich' gestrichen wissen: 'Von unserem Denken und Handeln aus die Welt zu denken ist die einzige Möglichkeit, die Welt ohne einen Verrat am eigenen Denken zu denken '' (Nr. 149). Seine pragmatische Erkenntnisdiätetik führt schließlich dazu, 'keinen prinzipiellen Unterschied zwischen phänomenalen und anderen Eigenschaften' (Nr. 156) zu postulieren. In anderen Worten: er nivelliert Sein und Schein, weil die Dinge '[e]ntgegen anderslautenden Gerüchten ' kein Wesen [haben]' (Nr. 165). Wenn Seel jedoch behauptet, dass ein Laut, der sich 'wie ein Schrei anhört, [ein Schrei] ist', und ein Gewächs, das 'nach Spargel riecht, [Spargel] ist' (Nr. 132), kann er letztlich doch nicht anderes, als dem Erscheinen eine Substanz zuzusprechen. Was er nämlich ausdrücken möchte, lässt sich nur im Rückgriff auf erfahrungstranszendente Wahrheitskonzepte sagen, womit er Kants 'Ding an sich' unbeabsichtigt wieder ins Spiel bringt. Seine antimetaphysische Position, die er mit Poststrukturalisten und Dekonstruktivisten teilt, stellt ihm hier ein Bein, denn dort, wo man keinen substantiellen Referenzwert mehr hat ' und sei es nur als regulative Idee ' ist alles Sprechen ein weißes Rauschen: 'Jede der Unterscheidungen, die wir treffen, verweist auf viele weitere, ohne die nicht treffen könnte, was sie trifft ' und diese verweisen auf immer weitere, für die ihrerseits das Gleiche gilt' (Nr. 93). An dieser, mit Verlaub, 'nichtssagenden' Bemerkung lässt sich zugleich die Schwäche von Seels Aphorismen ablesen. Es fehlt ihnen an Spannkraft, wodurch jedes noch so mühsam konstruierte Paradox zur zirkulären Argumentation verkümmert. Sie treffen nicht ins Schwarze wie Nietzsches 'Pfeile' und vermögen auch nicht, 'in einem Satz die Wahrheit zu überflügeln' (Karl Kraus). Seels Beiträge sind oft von ermüdender Länge, was unter anderem damit zusammenhängt, dass selbsterklärende, zum Teil spritzige Aphorismen mit überflüssigen Erläuterungen versehen werden. Folgendes Notat spricht Bände:
'Das gute Leben ist kein moralischer Begriff. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Moral ist Rücksicht auf Möglichkeiten des Guten: das ist ihr Gutes.
Moralisch gut sind Personen und ihre Handlungen; jemand, der ein gutes Leben hat, ist noch lange nicht moralisch gut. Mit etwas Dusel kann ich es mir gutgehen lassen, ohne mich groß um andere zu scheren. Das Argument für die Moral lautet nicht, dass es in ihren Armen zum Glück keine Dusel braucht; den braucht es immer. Das Argument lautet: dass in ihren Armen das Glück mehr Farbe hat (Nr. 83).'
Das ist zweifellos flott geschrieben, doch hätte sich der Autor auf die ersten beiden Sätze beschränken sollen. Hier wäre der Rotstift eines literarisch geschulten Lektors durchaus vonnöten gewesen. Als besonders abschreckendes Beispiel muss jedoch Aphorismus Nr. 99 gelten. Dort beginnt Seel mit der bereits in zehn vorangegangenen Überlegungen ausgebreiteten These, dass sich in jeder Tugend ein Laster verborgen hält, um dann 334 im Wörterbuch nachgeschlagne Charaktereigenschaften in alphabetischer Reihenfolge aufzulisten. Abgesehen von Seitenschinderei erfüllt dies keinen erkennbaren Zweck. Aber damit nicht genug: Viele Beiträge klingen wie Protokolle aus dem philosophischen Oberseminar und unterscheiden sich von einschlägiger Fachliteratur bloß dadurch, dass sie auf Quellennachweise und Fußnoten verzichten:
'Wenn Handlungsfähigkeit und Handlungsverstehen an 'die Sprache des Handelns' gebunden ist, hat ohne deren Bedeutungen alles Handeln keine Realität. ' Die Beziehungen von Wort zu Wort, von Wort zu Welt sowie zwischen denen, die sich im Gebrauch von Worten in der Welt tummeln ' die Beziehungen also, die verstanden werden müssen, wenn überhaupt etwas verstanden werden soll ', reichen nicht ad infinitum, sondern lediglich ad indefinitum. Sie verleihen den Einheiten des Sprechens und Denkens einen bestimmten Inhalt, indem sie einen insgesamt weder überschaubaren noch sonstwie bestimmbaren Zusammenhang von Verweisungen bilden ' (Nr. 349).'
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die allzu systematische Einteilung in Themenblöcke, die eigentlich auch Kapitelüberschriften wie 'Meine Poetik', 'Kindheit und Alter', 'Tugend als Laster', 'Von der Macht des Erscheinens', 'Altern und Tod ', 'Reisen', 'Beiläufige Betrachtungen zu Kunst und Musik' oder 'Arbeit' gerechtfertigt hätte. In struktureller Hinsicht ist das Buch daher keineswegs 'ausgefuchst' (9), wie ein Rezensent behauptete, sondern eher konventionell und einfallslos. Die von Seel geforderte 'Unbestimmtheit in der Bestimmung' hätte ein komplexeres Ordnungsprinzip verlangt. Schließlich sind noch die missglückten Wortspiele zu nennen, von denen es in Theorien nicht wenige gibt. Zum Beleg drei gewichtig daherkommende Kalauer:
'Dem Satz; der Sache, dem Leben einen Dreh geben ' ohne diesen Schwindel wäre alles ein Schwindel' (Nr. 48).
'Sucht ist ein Getriebensein, das nichts mehr sucht' (Nr. 223).
'Der Philosoph ist der Feind des Textes ' er nimmt sich ihm gegenüber alles heraus' (Nr. 506).
In Anbetracht dessen ist man geneigt, dem Autor vom Aphorismenschreiben abzuraten, blitzte es nicht hier und da auf. So zeugen etwa die Sätze 'Laster ist Verbissenheit in die eigene Art' (Nr. 91), 'Das Alter ' jene Müdigkeit, gegen die kein Schlaf mehr hilft' (Nr. 209) und 'Geduld ist die Tugend der Unnachgiebigen' (Nr. 398) sowohl von existentiellem Ernst als auch von stilistischer Schnörkellosigkeit. Hiervon wünscht man sich als Leser mehr, genauso wie von den Alltagsbeobachtungen, die Seel in fundamentale philosophische Überlegungen münden lässt. Gerade da, wo er sich als unangepasster Denker exponiert, macht er dem Aphorismus alle Ehre. Die gewaltigen qualitativen Schwankungen seines Bandes sind folglich nur dadurch zu erklären, dass ihm diese Mitteilungsform nach wie vor suspekt ist. Er meint es eben nicht 'ernst ' mit der aphoristischen Haltung', wie es eingangs hieß, sondern zieht den linearen Diskurs immer noch der sentenziösen Eigen-Logik vor. Das ist vor allem in den Schlusszeilen von 'Theorien' zu spüren, in denen er sich bei Alexander Roesler dafür bedankt, 'so ein Buch' im wissenschaftlichen Programm von S. Fischer untergebracht zu haben. Diese distanziert-unterkühlte Formulierung sagt viel über ihn und sein Verhältnis zur Gattung aus. Ihm mangelt es an Ciorans ätzendem Pessimismus, Handkes Romantik, Canettis grotesker Phantastik, Nietzsches Wagemut, Adornos polemischem Ton und Wittgensteins formaler Strenge. Es bleibt zu hoffen, dass er seine Vorbehalte gegenüber dem philosophisch-literarischen 'Spreng-Satz' (Nicolás Gómez Dávila) bald aufgibt und tatsächlich zu dem 'Störenfried in seinem Fach' (10) wird, für den man ihn bereits hält.
Quellennachweise:
(1) Schloemann, Johan: 'Das kann sich sehen lassen. Ohne Fußnote: Martin Seel wagt philosophische Aphorismen', in: Süddeutsche Zeitung (22.10.2009).
(2) Delius, Maria: 'Etwas Welt. Martin Seel verfertigt Theorien', in: FAZ (25.10.2009).
(3) Schloemann Johan: 'Das kann sich sehen lassen. Ohne Fußnote: Martin Seel wagt philosophische Aphorismen', in: Süddeutsche Zeitung (22.10.2009).
(4) Ebd.
(5) Vgl. Nutt, Harry: 'Vom Schreibtisch geräumt', in: Frankfurter Rundschau (18.9.2009).
(6) Vgl. Schloemann Johan: 'Das kann sich sehen lassen. Ohne Fußnote: Martin Seel wagt philosophische Aphorismen', in: Süddeutsche Zeitung (22.10.2009).
(7) Platthaus, Andreas: 'Martin Seel: Theorien. Der Mann mit dem ziselierten Schießeisen', in: FAZ (14.10.2009).
(8) Vgl. Schulte, Ralf: 'Zen und die Kunst, Diskurse zu warten', in: Textem. URL: >http://www.textem.de/1891.0.html< (Stand: 15.2.2010)
(9) Platthaus, Andreas: 'Martin Seel: Theorien. Der Mann mit dem ziselierten Schießeisen', in: FAZ (14.10.2009).
(10) Ebd.