Der Schreiber als Dolmetsch
Sprachliche Umsetzungstechniken beim binnensprachlichen Texttransfer in Mittelalter und Früher Neuzeit

Der vorliegende Ergänzungsband der Zeitschrift für deutsche Philologie mutet qua seiner Überschrift bzw. des darin vorkommenden Begriffs 'Dolmetsch' zunächst doch reichlich rückwärtsorientiert und antiquiert an' und der Untertitel scheint diesen Eindruck deutlich zu bestätigen, handelt es sich doch um Beiträge zur literarischen Übersetzungspraxis in Mittelalter und früher Neuzeit. Allerdings sollte, und das gilt eigentlich grundsätzlich für zumindest bestimmte Aspekte im Rahmen der Erforschung mittelalterlicher Texte und ihrer Erstellung, nicht außer Acht gelassen werden, dass gerade die aufgrund weitgehender Illiterarität quasi fast notwendige Dialektbezogenheit in den volkssprachlichen Verschriftlichungen durchaus moderne resp. postmoderne Phänomene aufweist. Sie (könnten) insofern für die Gegenwart modellhaften Charakter aufweisen, als in Zusammenhang mit der zurückgehenden Referenzfähigkeit der Schriftsprache für die Standardsprache bis hin zu erkennbar dialektal geprägten Schreib- bzw. Verschriftlichungsleistungen im schulischen Kontext zumindest von der Phänomenik her sich durchaus Vergleiche nahelegen.
Nun ließe sich in diesen Zeiten, in denen offenbar im Zuge der verschiedenen Bildungsnormierungen, die meistenteils auf Bildungsverlust hinauszulaufen scheinen, die Frage stellen, warum es einer weiteren Publikation im Bereich der Mediävistik überhaupt bedarf. Ist nicht schon genug geschrieben worden und haben nicht diejenigen, die sich überhaupt noch für mittelalterliche Sprache und Literatur interessieren, nicht bereits genügend Material zur  Verfügung, um damit zu arbeiten? Die Antwort lautet, aber das ist nicht weiter verwunderlich, 'nein', denn in diesem Ergänzungsband wird ein Umstand zum Thema gemacht, der zwar 'irgendwie' bekannt ist, gleichwohl aber nicht so selbstverständlich erinnert wird. Denn wesentlich ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass sich angesichts etwa normierter Textausgaben im Normfalle eben nicht klar vor Augen geführt wird, dass es sich bei diesen Texten meistenteils um das 'arithmetische Mittel' verschiedener Überlieferungen handelt, die in der den meisten ' insbesondere auch Studierenden ' vorliegenden Form nicht niedergeschrieben wurden.
Allein aus diesem Grund ist das differenzierte Herangehen an die entsprechende Materie, das sich die Herausgeber Werner Besch und Thomas Klein mit Hilfe ihrer verschiedenen Autorinnen und Autoren auf die Fahnen geschrieben haben, höchst verdienstvoll. Und, um die 'babylonische Sprachverwirrung' nicht auf die Spitze zu treiben: auch wenn sich eine überregionale Standardschriftsprache erst seit dem sechzehnten Jahrhundert durchzusetzen beginnt, machen die Beiträge eine gemeinsame Komponente im Herangehen von Schreibern und Druckern an die jeweiligen Texte deutlich: Es handelt sich um das Bemühen, den textlichen Inhalt möglichst unverändert zu belassen und auch die Anpassungen in Hinblick auf Sprache und Ausdrucksformen nur auf das Notwendigste zu beschränken; und das wirkt ja doch schon wieder recht modern.
Der Aufbau folgt weitgehend chronologischen Vorgaben. So behandeln  Rolf Bergmann und Stefanie Stricker in ihrem den Band einleitenden und betitelnden Aufsatz zunächst sprachliche Umsetzungstechniken beim binnensprachlichen Transfer althochdeutscher Glossen und begeben sich damit in die Frühzeit des 'Dolmetschens'. Bernhard Schnell geht der Frage nach 'Varianz oder Stabilität' nach, wenn er die Abschriften mittelalterlicher deutscher Medizinliteratur thematisiert. Anhand des Traktats 'Erkenntnis der Sünde' beschäftigt sich der Wiener Germanist Peter Wiesinger mit dem interdialektionalen Transfer Bairisch ' Schwäbisch im Frühneuhochdeutschen, womit nicht unwesentliche Erkenntnisse in der knapp 'vorstandardisierten' Schriftsprachenlandschaft des Frühneuhochdeutschen dargelegt werden. Im Feld dialektaler Varianzen, allerdings im niederdeutschen (bzw. niederländischen) Bereich, bleibt der Beitrag von Robert Peters, in dem der Transfer des Textes vom 'Wyngaerden der sele' ' entstanden wohl in dem niederländischen Kloster Frenswegen ' nach bzw. in Münster Thema sind. Gerade in der Frühen Neuzeit sind wieder theologische Schriften Sujet für Übertragung und Verbreitung geworden, so dass die Thematisierung der Vorgehensweisen früher Nachdrucker mit Luthers Bibelübersetzung ins Deutsche durch Walter Haas durchaus konsequent erscheint. Dies gilt auch für den Beitrag Franz Simmlers, der Luthers Septembertestament von 1522 mit der Zürcher Bibeltradition von 1524 bis 1535 hinsichtlich lexikalischer, syntaktischer und makrostruktureller Variabilitäten vergleicht. Etwas 'säkularer' ist demgegenüber der Aufsatz Walter Hoffmanns gehalten, der die Druckfassungen von Christian Wiersraets Reimchronik der Stadt Neuss auf ihre entsprechenden Phänomeniken hin untersucht. Werner Beschs Beitrag zum 'SCHREIBER' (!) liefert neben Detailinformationen einen knappen, aber gelungenen Überblick zu Charakterisierung und Funktion des 'Schreibers' in der fraglichen, d.h. vorstandardisierten Zeit ' Berufsbild und Vermittlungsweise werden hier ebenso zum Thema gemacht, wie Essentielles, so dass der Aufsatz auch gut weiter am Anfang hätte untergebracht werden können. Über den Bereich des deutschen Sprachraums im engeren Sinne weist Thomas Klein unter dem Titel 'Umschrift ' Übersetzung ' Wiedererzählung' hinaus, indem der im Titel aufscheinende 'westgermanische Bereich' insbesondere die Kontaktzone zwischen Niederdeutsch und Niederländisch meint und entsprechende Texttransfers thematisiert. Quasi einen 'Blick in die Zukunft' liefern abschließend Martin Durell, Astrid Ensslin und Paul Bennett, indem sich das Trio mit 'Zeitungen und Sprachausgleich im 17. Und 18. Jahrhundert' beschäftigt ' und damit eigentlich den Boden des Bandes fast schon verlässt.
Insgesamt gesehen ist der vorliegende Band als grundsätzliche Hinführung zum Feld der literarischen Gestaltung und Übertragung in Mittelalter und Früher Neuzeit anzusehen, aber eben auch als eine Fundgrube für die Thematisierung bestimmter Einzelprobleme, die jeweils durch einen ausgewiesenen Fußnotenapparat und/oder durchaus nennenswerte Bibliographien vollumfänglich verwendet werden kann. In diesem Sinne ist die vorliegende Publikation sowohl einem mediävistisch als auch sprachwissenschaftlich interessierten und engagierten Kreis zu empfehlen.