Neues von Parzival
Die Beziehung des Original-Epos von Wolfram von Eschenbach zur Moderne. Alle 827 Texte des mittelhochdeutschen Originals – zeilentreu übersetzt in die Begriffe der Jetzt-Zeit

Wolframs von Eschenbach 'Parzival' gehört zu den bedeutendsten Erzähltexten des europäischen Mittelalters und zu den Klassikern der mittelhochdeutschen Literatur. Zwischen 1200 und 1210 entstanden, verbindet Wolframs Roman auf kunstvolle Weise Artus- und Gralsstoff und legt mit der Darstellung von Parzivals Weg zum Gralskönig nicht nur den Grundstein für eine intensive Rezeptionsgeschichte, die bis heute anhält. Mit seiner handschriftlichen Vielfalt, seinem voluminösen Umfang und seiner durch einfallsreiche Sprachbilder sowie Humor geprägten 'Haken schlagenden' Erzählweise hinterlässt Wolfram jedoch auch ein schwieriges Erbe: Sein Werk gehört zu einem der schwierigsten edier- und übersetzbaren und zu einem der am kontroversesten diskutierten des Mittelalters überhaupt.
Michael Dirk greift mit 'Neues von Parzival' die epochenübergreifende Attraktivität des Wolframschen Werkes auf und legt einen ambitionierten Übersetzungsversuch vor, der den Roman in seinem 'ureigensten Sinne' (S. 7) einem modernen Laien erschließen und seinen Status als Meilenstein deutscher Literatur auch im Hier und Jetzt unserer Zeit verankern soll. Auf der Basis der noch heute gängigen Ausgabe von Karl Lachmann setzt sich Dirk dabei von den zweisprachigen Ausgaben ab, wie sie v.a. für wissenschaftliche Zwecke bestimmt sind, und bietet nicht nur ausschließlich eine einsprachige neuhochdeutsche Übersetzung, sondern im Rahmen einer opulent-gefälligen Ausstattung zudem kurze Inhaltsangaben der 16 Bücher sowie einen Anhang, der mit Interpretationen und Anmerkungen sowie einem Personen- und Sachregister den Zugang zum Werk erleichtern soll.
So ambitioniert und anerkennungswürdig Dirks Versuch ist, so deutlich zeigen sich gerade bei ihm jedoch auch die damit verbundenen Probleme und Gefahren. Dies beginnt bereits im Rahmen der sprachlichen Übertragung, die durch die alleinige neuhochdeutsche Textdarstellung ostentativ auf die Transparenz zum mittelhochdeutschen Werk verzichtet und dabei den Anspruch eines 'schlüssige[n] Text[es] der Gegenwart' (S. 9) verfolgt, der 'sich so dicht wie möglich an unsere Gegenwartssprache anlehnt und dabei den ursprünglichen Text so rein wie möglich bestehen lässt' (S. 9). Im Zusammenhang dieses aus der Romantik stammenden
Übersetzungsverfahrens, bei dem Dirk sich zeilentreu an Lachmann hält und einige mittelhochdeutsche Wörter, v.a. Eigennamen, stehen lässt, kommt es nicht nur immer wieder zu Wort- und Satzkonstruktionen, die die deutschen Rechtschreib- und Syntaxregeln missachten und sich generell an der Grenze der Verständlichkeit bewegen. Gerade im Vergleich zu Wolfram gehen damit auch zahlreiche inhaltliche Unterschiede einher, die sich von semantischen Abweichungen bis hin zu großen Diskrepanzen erstrecken, wenn Dirk beispielsweise ''Künc Artûs (...) dîn stîgender prîs nû sinket'' überraschend mit 'König Artûs (...) Dein stinkender Preis sinkt jetzt' (315,1-3) übersetzt. Ihren Kulminationspunkt finden diese Kontraste letztlich im Rahmen der erzähltheoretischen Passagen des Romans, bei denen sich nicht nur Prolog und Epilog, sondern v.a. auch die Exkurse deutlich von Wolfram entfernen, wie ein Blick auf eine der zentralen Passage zeigt, bei der Dirk ''Swer des von mir geruoche, / der enzel si ze keinem buoche. / ichne kan deheinen buochstap. / dâ nement genuoge ir urhap' (115,25-27) fantasievoll mit 'Wer das von mir erwartet, / der erzähle es keinem Buche, / noch einem Buchstaben, / das nehmt genug an' übersetzt und so ' ohne ersichtlichen Grund ' ein völlig verändertes künstlerisches Selbstverständnis des Erzählers transportiert.
Auch auf der inhaltlich-interpretatorischen Ebene kontrastiert Dirks Werk stark mit dem mittelhochdeutschen Text. Neben veränderten Kausalitäten im Rahmen der Inhaltsangaben und abweichenden Definitionen im Personen- und Sachregister kristallisiert sich dies besonders deutlich in den Kommentaren und Anmerkungen im Anhang heraus. Auf der Basis eines aus heutiger Sicht veralteten Forschungsstandes ' so geht Dirk im Sinne Lachmanns von einem Autororiginal bzw. Urtext aus und bezeichnet den höfischen Artus- und Gralsroman 'Parzival' wie im 19. Jh. als 'Epos' bzw. 'Heldenepos' ' unterstreicht Dirk die thematische und diskursive Modernität des Werkes. Dabei kommt er zu scheinbar 'völlig neue[n] Interpretation[en] des Textes' (S. 9), die letztlich ' wie z.B. die Widerlegung der (heute revidierten) Forschungsthese der Identifikation der 'templeise' mit den Kreuzrittern oder das aus heutiger Forschungssicht irritierende Ergebnis, der Aspekt der 'Anziehungskraft der Geschlechter' habe bislang zu wenig Beachtung gefunden, 'weil man das Werk in unserer Gegenwart immer noch als Heldenepos in einer völlig verklärten Märchenwelt begreift' (S. 947) ' in ihrer überwiegenden Rückschrittlichkeit ein eigentümliches Licht auf die 'Modernität' des Verfassers und damit letztlich auch auf sein Übersetzungswerk selbst werfen.
Quo vadis 'Parzival'? In einer Zeit, in der das Mittelhochdeutsche aus den schulischen und universitären Curricula verschwindet und das Mittelalter wie auch der Mythos vom Heiligen Gral nicht zuletzt mit Dan Browns Romanen eine neue gesellschaftliche Renaissance erlebt, kommt Dirk sicherlich das Verdienst zu, einen der bedeutendsten Erzähltexte des Mittelalters für ein breiteres Publikum zugänglich gemacht zu haben. Am Ende bleibt jedoch fraglich, ob es Dirk wirklich gelungen ist, Wolframs 'Parzival' 'in seinem ureigensten Sinne in jene ferne Zeit zu übertragen, in der wir heute leben und in der wir noch in ferner Zukunft leben werden.' (S. 7). Würde man nämlich die zentrale Frage des Werkes, 'Wie geht es Dir?' an Wolframs Werk selbst stellen, wie es mit Dirks moderner Genetivverwendung als 'Eschenbachs Werk' (S. 989) in der Gegenwart angekommen ist, so fiele die Antwort angesichts der zahlreichen Abweichungen und Unschärfen wohl eher negativ aus.